Zusammenfassung aus dem Buch von Helmut
Thielicke: Das Schweigen Gottes
ISBN 3-7918-1921-6 Quell Verlag. Meine Gedanken habe ich darin eingearbeitet.
Deshalb empfehle ich, das Buch selbst zu kaufen.
Durch Rolf Häberle
Themen: Leid, Tod, Trost, Sinn
Predigt aus Anlass des Schiffsuntergang der „München“
So können wir an dieser Hand getrost ins Dunkel gehen, selbst in die Todesnacht. Denn unser Sterben ist ja nur ein Übergang; es ist auf keinen Fall ein Schlußpunkt, hinter dem nur der Abgrund des Nichts gähnte. Aber ein Übergang wohin? Wo sollen wir unsere Toten suchen, nachdem sie aus dieser Zeitlichkeit abgerufen wurden? »Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt« , heißt es einmal im Faust. Und doch möchte unser Auge den Pfad eines geliebten Menschen ja immer weiterverfolgen, auch dorthin, wo die letzte Wegbiegung ihn unserm Blick entzieht. Was aber wäre dieses jenseits hinter der letzten Biegung? Was wäre der Himmel, was wäre das Paradies, von dem die Christen sprechen? Ist nicht der Schmerz über den jähen Abschied, den wir eben zu erleiden hatten, noch viel zu frisch und zu elementar, als daß wir für solche Jenseits-Träume empfänglich sein könnten?
Aber geht es denn nur um Träume und bloße Schäume? Hier muß ich zwei Geschichten erzählen, die mir großen Eindruck gemacht haben (und in einer solchen Stunde wie dieser kann man ja nur persönlich reden; da muß man Farbe bekennen, was einem selber zum Halt geworden ist):
Als der Vater des großen Theologen Adolf Schlatter im Sterben lag, standen fromme Glaubensbrüder um sein Lager und suchten ihn zu trösten: Bald wirst du in Zions goldenen Hallen sein und die Freuden des Paradieses genießen. Dann wirst du durch alle Not des Sterbens hindurch sein. Da richtete sich der Sterbende noch einmal auf und fuhr sie an: »Laß mich in Frieden mit all dem Jenseits-Quark! Mich verlangt nur, am Halse des Vaters zu hängen! «
Nur dieses eine Bild also wollte er noch gelten lassen: das Bild aus dem Gleichnis Jesu vom Verlorenen Sohn, wo der Vater seinen verirrten und nun heimkehrenden jungen in seinen Armen auffängt und ihn für immer annimmt.
Damit hatte der Sterbende in der Tat auf den wesentlichen Blickpunkt verwiesen: Er wollte nichts wissen von einem himmlischen, einem märchenhaften Milieu, nichts von Kulissen des jenseits und von Zions Gassen. Nein: Es ging ihm nur um das Eine, daß er bei seinem Vater geborgen sein und an der Stätte Frieden finden würde, die ihm sein Herr bereitet hatte.
Nicht also, weil ich von einem jenseits träumte, glaube ich an das Leben der zukünftigen Welt und weiß ich, daß der Tod nun nicht mehr das letzte Wort haben darf. Darauf kann ich nur deshalb mein Vertrauen setzen, weil ich schon jetzt der Geselle dessen bin, der mich bei meinem Namen gerufen hat und mich nie mehr aus seiner Treue entlassen wird. Darum gehe ich an seiner Hand auch vertrauend ins Dunkle, selbst in das »Nicht-mehr-Vorstellbare« und »Ganz-Andere« der zukünftigen Welt. Denn er, der Eine, wird mir dann nicht fremd und wird nicht »anders« sein. Sondern ich werde ihn wiedererkennen als den, dessen Stimme mir seit eh und je vertraut ist wie den Schafen die Stimme ihres Hirten.
Als einer meiner liebsten Studenten im Sterben lag, blieb ich in den letzten Nächten bei ihm in seinem Klinikzimmer. Er mußte durch schreckliche körperliche Qualen und Atemnot und griff immer wieder voller Angst nach meiner Hand. Plötzlich bimmelte die Sechs-Uhr-Morgenglocke einer kleinen Kapelle in der Nähe. Da strahlte er mich an und sagte: »Hörst du die Osterglocken? Jetzt ruft er mich, siehst du: jetzt stehe ich auf. « - Das kümmerliche Glöckchen, das nur einen normalen Erdentag einläutete, wurde ihm in seiner letzten Not zum Signal des Osterfürsten, dem er im Leben vertraut hatte und der ihn nun dem finsteren Tal der Todesangst entriß.
Als diese wunderbare Wandlung des simplen Gebimmels geschah, da wußte der Sterbende, daß auch sein qualgeschüttelter und nichtiger Leib verwandelt und in ein neues Sein hinein verklärt werden würde. Nein: Er war schon hinübergezogen in dieses Ganz-Andere, träumend und aller Erdennot entnommen. Er grüßte mich schon von der andern Seite wie einen, den er in der Todeswelt zurückließ. Und unwillkürlich dachte ich an das Wort eines Märtyrers der russischen Revolution. Ehe die tödliche Salve krachte, rief er dem Exekutionskommando zu: »Ich, der nun ins Leben geht, grüße euch, die Toten. «
Vielleicht wagen wir einmal, so an die uns teuren Menschen zu denken, die auf See geblieben sind (nicht nur beim Untergang der »München«, sondern auch bei den vielen andern Katastrophen, von denen Fernsehen und Presse nahezu täglich berichten).
Wenn wir von einem geliebten Menschen, der auf eine weite Reise geht, Abschied nehmen, dann machen wir vielleicht etwas mit ihm aus (im Kriege habe ich das immer wieder erlebt). Wir verabreden, abends um dieselbe Stunde auf den gleichen Stern zu sehen, damit unsere Blicke sich in der Ferne des Weltraums begegnen, auch wenn ich in der Heimat bin und der andere an einer fernen Front kämpft. So ist es auch mit unsern Verstorbenen, die sich auf eine weite Reise ohne Wiederkehr begeben haben. Wir wissen um den » Stern, auf den ich schauen« darf; wir wissen um den lebendigen Herrn über Leben und Tod, den das Lied als diesen Stern besingt. Sie - die von uns Gegangenen - sehen diesen gleichen Stern wie wir. Nur blicken sie jetzt auf ihn von der andern Seite. Aber über denen hüben und denen drüben leuchtet er in demselben Glanz. In ihm treffen sich ~die Blicke der Lebenden und der Toten, die diesem Stern vertrauen.
DIE IHM VERTRAUEN -- das ist eine Frage an unser jetziges Leben, eine Frage an uns, die wir noch im Lichte wandeln. Es gibt ja keine simplen Trost-Gedanken, die ich in dieser Stunde wie eine beruhigende Arznei austeilen könnte. Es ist die Größe dieses Vertrauens, daß es einen Anspruch an unser Leben enthält. Nur so können wir unsere Trauer bewältigen, daß der Gedanke an unsere Toten uns zur Aufgabe wird, daß er unserm Leben eine neue Richtung gibt.
Diese Aufgabe sehe ich darin, daß alle, die jetzt von Gram und Leid gebeugt sind, jene letzten Fragen nach unserm Woher und Wohin nicht mehr in sich verstummen lassen; daß sie nach dem zu fragen beginnen, der Lebende und Tote bei ihrem Namen ruft, und daß sie Ausschau halten nach dem Stern, der über dieser und der zukünftigen Welt leuchtet.
Ein Mädchen, das in Mogadischu dabei war, als es mit den andern Geiseln auf ein grausames Ende wartete, erzählte meinem Freund, es habe in seiner Todesangst beten wollen und nach dem Wortlaut des Vaterunsers gesucht. Aber sie habe es nicht mehr zusammengebracht und in ihrer Verzweiflung nur die beiden Worte herausgebracht: »Unser Vater«. Sie habe dann zu weinen begonnen, weil sie partout nicht weiter wußte. Aber ein älterer Mann neben ihr habe sie getröstet: »Das genügt schon, Mädchen! Er hört es ja und weiß, wie du es meinst. « - So mag auch mancher von denen, die der Ozean in sich hineinriß, mit einem letzten Gedanken noch seine Lieben daheim gesucht haben. Und vielleicht hat sich auf seinen Lippen, auf ihren Lippen ebenfalls dieses letzte kurze Wort geformt: »Unser Vater«. Und dieser Ruf wurde gehört. Auf der andern Seite war einer, der sie empfing, der sie in seinen Armen aufnahm.
Ich schließe mit einem Gebet, das ich mir als teures Vermächtnis aus dem letzten Kriege aufgehoben habe. Es stammt von einem jungen Soldaten, der irgendwo in einem Massengrab ruht, der aber wußte, daß er bei seinem Namen gerufen war, und der nun getröstet auf den Stern schaute, von dem ich sprach. Er hat in seinem Gebet auch an die gedacht, die auf See geblieben sind:
Alle, die gefallen in Meer und Land, sind gefallen in deine Hand ... Alle, die weinen in dunkler Nacht, sind von deiner Güte bewacht. Gib uns Augen, daß wir es sehn, wie deine Hände mit uns gehn ... Gib uns das Leben durch deinen Sohn uns - - und den Toten vor deinem Thron,