Predigt in Niederhörlen und Oberhörlen

am 3. Dezember 2000 (1. Advent)

über Lk 1,67-79 (Benedictus)

 

Die Angst vor dem Unheil sitzt tief, liebe Gemeinde. Und für das Unheil, das uns neu und massiv ängstigt, stehen drei Buchstaben. Diese drei Buchstaben sind gerade nicht aus den ersten Seiten der Zeitungen, den Titeln der Zeitschriften und den Einblendungen der Nachrichten wegzudenken. Das Unheil hat einen neuen Namen: BSE. Die Erkrankung ist schwer nachzuweisen. Die Übertragungswege liegen für die Forschung noch ziemlich im Dunkeln. Eine Impfung oder ein Medikament gibt es nicht.

Da erhebt sich gleich die Frage: Wer ist schuld an dem Unheil? Die Futtermittelindustrie, die Kadaver zu Tier macht und Rinder zu Kannibalen, die solches Tiermehl auch anderen Futtermitteln beimischt? Sind es die Landwirte, die immer größere Erträge erzielen wollen? Die Politiker, die mehr das Wohl der Landwirte im Blick haben als die Gesundheit der Verbraucher? Oder sind es letztlich die Verbraucher selbst, die für immer weniger Geld immer mehr Fleisch essen wollen?

So sitzt die Angst vor dem Unheil, das mit den drei Buchstaben verbunden ist, tief in uns.

 

Als Zacharias lebte, saß die Angst vor dem Unheil mindestens ebenso tief. Und dieses Unheil hatte vier Buchstaben: SPQR. Senatus Populusque Romana. Der Senat und das Volk Roms. Diese vier Buchstaben fanden sich auf allen Standarten der Soldaten, die das Stadtbild Jerusalems und aller anderen Städte prägten. Ungefähr 60 Jahre zuvor war Pompejus mit seinen Legionen angerückt und hatte Israel mit anderen Gebieten als Provinz Syrien dem römischen Imperium angegliedert. Damit nicht genug. Pompejus spazierte in den Tempel hinein, durch den Bereich, der den Juden vorbehalten war, hindurch bis in das Allerheiligste des Tempels, wo nur der Hohepriester Zutritt hatte. Und die Juden mussten sich das gefallen lassen. Obwohl Pompejus die Tempelschätze nicht anrührte, war dies eine Machtdemonstration ohne Gleichen. Nach und nach übergaben die Römer einzelne Ämter wieder an Juden. Doch die hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich den Römern anzubiedern und ihren Lebenswandel zu kopieren. Vor dem König Herodes etwa, der gerade herrschte, hatte Zacharias keinen Funken Respekt. Denn der achtete weder seine Freunde noch seine eigene Familie. Er heuerte bezahlte Killer an, um seine Gegner aus dem Weg zu räumen. Dabei machte er nicht einmal vor seiner Frau und seinen Söhnen Halt. Die griechischen Götter durften in seinem Reich ebenso ungehindert verehrt werden wie der Gott Israels. Die Griechen förderte er ebenso wie den Ausbau des Tempels in Jerusalem und das Leben der Synagogengemeinden überall in seinem Land. Weil alles, was er für die Juden tat, halbherzig war, „gelang es ihm nicht, die Zuneigung der frommen Juden zu gewinnen. Durch sein strenges Regiment und den Terror, mit dem er jede Regung von Opposition niederhielt, blieb er der großen Mehrzahl des Volkes verhaßt.“ (Lohse, Umwelt des NT, 25) Für einen Priester wie Zacharias ging von Herodes großes Unheil aus. Wie würde Gott darauf reagieren, wenn der König seine Gebote mit Füßen trat? Hatte Israel in seiner Geschichte nicht schon oft genug erleben müssen, dass sich Gott von Israel abwandte, wenn die Menschen schuldig an ihm wurden?

Umso wichtiger war für Zacharias, dass er und seine Frau Elisabeth an den Geboten Gottes festhielten. Dennoch erlebten sie das Unheil auch in der eigenen Ehe: Elisabeth war unfruchtbar. Und nun war sie in ein Alter gekommen, wo an Schwangerschaft nicht mehr zu denken war. Ihre Enttäuschung war groß. Wie gerne hätten sie ein Kind gehabt! Hatte Gott sie vergessen? Waren sie von Gott verlassen?

Eines Morgens hatte Zacharias Dienst im Tempel. Das Los war auf ihn gefallen, dass er vor dem Vorhang zum Allerheiligsten das Räucheropfer darbringen sollte. Vor dem heiligen Bereich standen viele Leute, die beteten. Doch vor dem Allerheiligsten war Zacharias allein. Gerade als er das Opfer darbringen wollte, erschien ihm ein Engel. Zacharias bekam Furcht. Was sollte das bedeuten? Doch der Engel sagte: „Fürchte dich nicht! Gott hat dein Frau und dich erhört. Elisabeth soll einen Sohn bekommen! Und der bekommt eine besondere Aufgabe von Gott: Er wird vom Volk Israel viele zu ihrem Gott bekehren.“ Das konnte Zacharias nicht glauben. Und darum kündigte der Engel Gabriel an, dass Zacharias stumm sein sollte bis seine Verheißung erfüllt wäre. Daran sollte Zacharias erkennen, dass der Engel Gabriel recht behalten würde.

Und Elisabeth wurde tatsächlich schwanger. Der stumme Zacharias hatte währenddessen viel Zeit zum Nachdenken über die Worte des Engels Gabriel. Und er hörte von einem noch größeren Wunder: Ihre junge Verwandte Maria war ebenfalls schwanger, ohne mit einem Mann geschlafen zu haben.

Dann kam der Tag, als Elisabeth einen Sohn bekam. Doch Zacharias blieb stumm. Alle waren dafür, den Kleinen nach seinem Vater „Zacharias“ zu nennen – hebräisch: „Sacharja“, das heißt: „Der Herr ist ruhmreich.“ Da protestierte Zacharias mit Händen und Füßen. Schließlich ließ er sich eine Wachstafel geben und schrieb darauf: „Er heißt Johannes“, hebräisch: „Jochanan“: „Gott ist gnädig“. Und wie um das zu erklären begann Zacharias zu sprechen. Seine ersten Worte nach den 9 Monaten waren ein Lied:

Textlesung

So sang Zacharias zum Lob Gottes, der sein Volk nicht im Stich gelassen hat, der es besucht und erlöst hat. Die beiden Kinder, das eine neu geboren, das andere noch im Leib seiner Mutter, waren der Beweis: Gott hat uns nicht vergessen. Und er hat auch nicht vergessen, was er früher einmal seinem Volk versprochen hat. Darum wird er sein Volk aus der Hand seiner Feinde retten, wird Barmherzigkeit üben, wird Erlösung bringen und die Erlösten in eine enge Beziehung zu sich einladen. Der neugeborene Johannes wird eine besondere Aufgabe erfüllen, wie auch schon die Ankündigung seiner Geburt und die Geburt von einer alten Frau etwas Besonderes war. Schon früher hatte Gott Entscheidendes durch solche Kinder gewirkt, deren Eltern zuvor kinderlos gewesen waren und keine Hoffnung mehr hatten. So war Isaak geboren, Simson und Samuel. Durch sie hatte Gott dem Unheil des Volkes entgegengewirkt und neues Heil geschaffen. Und genauso sollte nun das Volk erkennen: Gott meint es gut mit uns. Er wirkt unserem Unheil entgegen. Zacharias wusste durch den Heiligen Geist und verkündete es in seinem Lied, dass das Heil für Israel von dem Höchsten, dem Herrn ausgehen würde. Sein Sohn Johannes würde ihm vorangehen und sein Kommen ankündigen.

 

Die weitere Geschichte hat der alte Priester Zacharias wohl nicht mehr miterlebt: Wie sein Sohn das Volk zur Umkehr aufrief. Wie er die Politiker angriff. Wie er Jesus taufte, den Gott selbst als seinen lieben Sohn bezeichnete. Und wie Johannes schließlich enthauptet und Jesus gekreuzigt wurde.

Zacharias erlebte sicher nicht mit, wie das Unheil mit den vier Buchstaben SPQR den Tempel und die Stadt Jerusalem zerstörte und die Juden in alle Welt verstreute.

Wäre er enttäuscht gewesen, wenn er es erlebt hätte? Hätte er dann sein Lied rückgängig gemacht? Hätte er dann ein Klagelied gesungen oder gar ein Lied zur Verhöhnung Gottes statt zu seinem Lob?

 

Viel Unheil ist seither unter den verschiedensten Buchstaben und Abkürzungen über das jüdische Volk gekommen, auch im 20. Jahrhundert. Aber das Lied des Zacharias wird immer noch gesungen. Es ist Teil des Morgengebets der Kirche. Mit Zacharias singt und betet und glaubt die Kirche schon seit vielen Jahrhunderten gegen das Unheil der Welt an. Sie singt von Gott, der sein Volk besucht und erlöst hat, der zu seinen Verheißungen steht, der die Vergebung bringt.

¦ Die Kirche singt gegen das Unheil an, weil sie von dem Erlöser lebt, der angekommen ist in der heiligen Nacht.

¦ Und sie singt gegen das Unheil an, weil sie auf den Erlöser wartet, der angekommen wird an seinem Tag, dem Tag des Herrn.

Advent, liebe Gemeinde, heißt nicht zuerst Vorweihnachtszeit: Wir warten auf das Christkind. Überlegen uns Geschenke. Freuen uns auf Weihnachten. Das heißt es auch, aber eben nicht zuerst. Und wenn es das einzige bleibt, dann bleibt auch die Enttäuschung nicht aus, weil das Unheil letztlich nicht aus der Welt ist, sondern bestenfalls elegant verdrängt.

Advent heißt in Wahrheit: Wir erleben etwas von der Sehnsucht nach, die Zacharias hatte, von der Sehnsucht, dass mitten in dem Unheil dieser Welt – ob es drei oder vier Buchstaben hat oder weniger oder mehr – dass mitten in dem Unheil dieser Welt das Heil anbricht wie Licht in der Dunkelheit. Und dass am letzten Ende das Heil stehen wird und nicht das Unheil.

Advent heißt: Wir erwarten die Ankunft Gottes, der im Stall von Bethlehem, in der denkbar größten Niedrigkeit Mensch geworden ist und der am Ende wiederkommen wird in unausdenkbar großer Herrlichkeit.

Advent heißt: Wir sind erfüllt von der Erwartung dieses Herrn, der uns doch auch jetzt schon nahe ist. So war er als noch Ungeborener dem Zacharias nahe, als die schwangere Maria in seinem Haus zu Gast war. Darum konnte schon Zacharias singen: „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David.“

Ja, im Zeichen des Advents feiern wir heute Abendmahl. Da kommt Jesus zu uns. Wir sind eingeladen, ihn in Brot und Wein leiblich in uns aufzunehmen. Christi Leib – für dich gegeben. Christi Blut – für dich vergossen. Und so nimmt uns Jesus Christus durch den Glauben auf in die Gemeinschaft seines Leibes, in das ewige Heil.

 

Liebe Gemeinde, viele von uns haben Angst vor dem Unheil, das drei Buchstaben hat. Es geht von Speisen aus, die unseren Körper schädigen können, vergiften und töten.

¦ Lasst uns – umgeben von dem Unheil der Welt – wie Zacharias singen von dem Heil, das Jesus Christus heißt.

¦ Lasst uns – trotz aller Verunsicherung durch das Unheil der Welt – auf den Anbruch seines Heils warten.

¦ Und lasst uns – mitten im Unheil der Welt – die Speise essen, die uns stärkt zum ewigen Heil. Das Abendmahl ist die „Arznei zur Ewigkeit“, wie Ignatius von Antiochien sagt. Brot und Wein, Leib und Blut – „das stärke dich und bewahre dich im rechten Glauben zum Ewigen Leben“. Unser Heiland Jesus Christus trägt letzten Endes den Sieg davon über alles Unheil der Welt und nimmt uns in diesen Sieg hinein, in sein Heil. Amen.