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Andacht 22.10.99 Lukas 2, 41-52 BTS
"Kinder sind eine Gabe des Herrn" - das ist das Leitwort unseres Kongresses.
Dieses Bibelwort höre ich am häufigsten mit einem humorvollen Seufzer bzw. einem leicht ironischen Unterton. Vielleicht liegt das daran, dass wir "Gaben", also Geschenke, normalerweise als etwas betrachten, was uns gehört und über das wir verfügen können. Ein Geschenk ist etwas, das für uns da ist, nicht wir für das Geschenk. Geschenke sollen uns keine Mühe, erst Recht keine Not machen, sie sollen uns Mühe erleichtern und Not lindern.
Bei Geschenken, die Gott uns macht, scheint das oft nicht ganz so zu stimmen. Er weiß offensichtlich besser als wir, was wir brauchen - und es ist nicht immer, was wir uns wünschen. Das macht unsere Wünsche nicht schlecht (und es ist ja gerade ein Aspekt dieses Auftrages "wie Kinder zu werden", dass wir unsere Bedürfnisse und Befindlichkeiten offen und unbefangen wahrnehmen und äußern). Aber der andere Aspekt gehört eben auch dazu: dass Kinder sich der führenden Hand ihrer Eltern vertrauensvoll fügen können und wir als Kinder Gottes seine Gaben annehmen wie er sie uns gibt.
Ich möchte unter diese Überschrift "Kinder sind eine Gabe Gottes" - ein Bibelwort stellen, welches überraschenderweise in diesem Kongress nicht angesprochen wurde, obwohl es - abgesehen von Geburt und Beschneidung Jesu - der einzige Hinweis auf Jesu Kindheit ist.
Lukas 2, 41-52
- Der zwölfjährige Jesus im Tempel
Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Passafest nach Jerusalem. Als Jesus zwölf Jahre alt war, nahmen sie ihn zum erstenmal mit. Nach den Feiertagen machten sie sich wieder auf den Heimweg; aber Jesus blieb ohne Wissen seiner Eltern in Jerusalem. Sie dachten er sei irgendwo unter den Pilgern. Sie gingen den ganzen Tag und suchten ihn dann abends unter ihren Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort. Am dritten Tag endlich entdeckten sie ihn im Tempel. Er saß bei den Gesetzeslehrern, hörte ihnen zu und diskutierte mit ihnen. Alle, die dabei waren, staunten über sein Verständnis und seine Antworten. Seine Eltern waren ganz außer sich, als sie ihn hier fanden. Die Mutter sagte zu ihm: "Kind, warum machst du uns solchen Kummer? Dein Vater und ich haben dich ganz verzweifelt gesucht. "jesus antwortete. "Warum habt ihr mich denn gesucht? Habt ihr nicht gewusst, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?" Aber sie verstanden nicht, was er damit meinte. jesus kehrte mit seinen Eltern nach Nazaret zurück und gehorchte ihnen willig. Seine Mutter bewahrte das alles in ihrem Herzen. Jesus nahm weiter zu an Jahren wie an Verständnis, und Gott und die Menschen hatten ihre Freude an ihm.
Ich denke, in diesem Text wird besonders deutlich, wie das bereits zitierte Psalmwort mit Freude sowie mit einem tiefen Seufzer genannt werden kann und darf. Das Geschenk "Kind" löst in uns wohl die stärksten und persönlichsten Gefühle aus, nicht nur die schönsten, sondern auch die tiefsten und verzweifelten. Den Horror der 15 Minuten, von denen Professor Herbst in seinem Vortrag berichtete, als seine Frau und er glaubten, ihr Kind sei ertrunken, können wir uns vielleicht nicht wirklich vorstellen, aber sicherlich ansatzweise nachvollziehen. Folterer und Tyrannen wissen das auch. Die stärksten Helden fallen in sich zusammen, wenn sie ihre Kinder in der Gewalt der Feinde wissen. Ich selber würde mich sicherlich nicht zum Wilhelm Tell eignen: wenn es um unsere Kinder geht, kann die Verzweiflung größer sein als jedes noch so hehre Prinzip.
Das gilt ja wohl auch für die Eltern Jesu - und doch setzt jesus ihrer Verzweiflung ein Prinzip entgegen: Uch kann euch nicht gehören. Ihr müsst mich freigeben, auch wenn es noch so schwer fällt." Ein Aspekt dieser Gabe ist also, dass sie Leihgabe ist. Das Loslassen von Kindern erfordert eine schmerzhafte Selbstüberwindung und Selbstaufgabe. Das geht uns heute nicht anders. Sorgen wir also dafür, dass wir selber als Eltern, Erzieher, Jugendleiter usw. für unseren Lebenssinn und -inhalt nicht auf unsere Kinder angewiesen sind, sonst wird es schwierig. Und doch finde ich etwas sehr tröstendes in Vers 51: "Maria bewahrte das alles in ihrem Herzen.'~ Wir können uns also unsere Kinder aufbewahren ohne sie festzuhalten. Nicht nur mit Fotos und Videokamera, sondern indem das Kindsein unserer Kinder in unserem Herzen einen festen Platz bekommt.
Ein weiterer Aspekt verdeutlicht: Diese Gabe ist eine Aufgabe, aber sie sollte keine Aufgabe ohne Pausen sein (Vers 41 + 42). Ich schließe aus diesen Versen, dass die Eltern Jesu jedes Jahr "eine Woche allein zu zweit" gemacht haben und - vielleicht in dieser guten Angewohnheit - auch bei diesem Passahfest die Sorge um ihr Kind weitgehend an die Gemeinde delegiert haben: Mr wird mit den anderen schon vorgegangen sein." Was uns hier vielleicht ein wenig zu unbekümmert erscheinen mag, ist in Wirklichkeit ein Geheimnis im richtigen Umgang mit Kindern. Wenn wir zulassen, dass Kinder unser ganzes Leben ausnahmslos erfüllen, wenn wir uns ganz für sie aufopfern, können wir irgendwann für sie nicht mehr da sein, weil es uns nicht mehr gut geht. Hier sehe ich eine Ursache für viel Not, gerade bei jungen Eltern, die oft gar niemanden haben, an die sie Erziehungsaufgaben zeitweise delegieren können. Das ist meines Erachtens eine der wichtigsten Aufgaben der Gemeinde heute: als Ersatz für die Großfamilie ein soziales Netzwerk zu bilden, welches Eltern auch Freiräume gibt, ihre Ehe zu pflegen, gemeinsam geistliche Gemeinschaft zu haben und selber ihr Kindsein - ihr Gotteskind-sein - zu leben. Darum geht es ja auch beim Passahfest. Gott als den Vater zu feiern, der die Kinder Israel aus Ägypten herausgeführt hat.
Achten Sie bitte noch einmal auf die Selbstverständlichkeit, mit der Jesus in der Menge der Gemeinde vermutet wird. Wenn wir uns fragen: "Was macht unsere Gemeinde Kinder- und Jugendfreundlich, dann lautet die Antwort vielleicht: es ist die Tatsache, dass Kinder und jugendliche eben ganz selbstverständlich zu dieser Gemeinde gehören. Dass sie dort ihren Platz haben, dass sie in unseren Gottesdiensten vorkommen, dass sie nicht als "Störfaktor" erlebt und behandelt werden, sondern integrativ Teil der Gemeinde sind. So wird deutlich, dass die Seelsorge am Kind immer auch eine Seelsorge am System sein muss - nicht nur am System der Familie, sondern auch am System der Gemeinde.
Ein weiterer Aspekt, der "Gabe Kind", der uns in dieser Begebenheit begegnet, ist das Kind als Maßgabe. Was macht den 12-jährigen Jesus im Tempel so vorbildlich? Sicher nicht, dass er der "bessere Erwachsene" ist. Die Weisheit der Kinder, über die die Lehrer staunen, ist natürlich nicht ein mehr an Erwachsenenweisheit, sondern eine andere Qualität - und das war sicher auch bei Jesus so. Dr. Grant Martin hat die Eigenschaften der Kinder beschrieben:
1. eine
unbefangene, direkte und geradlinige Ehrlichkeit,
2. ein Verwurzelt-sein im Hier und jetzt (im Gegensatz zum Feststecken in den Erfahrungen der Vergangenheit oder dem ständigen Leben in Plänen, Absichten und guten Vorsätzen für die Zukunft) und
3. ein tiefes
Mitgefühl mit dem Nächsten.
Wissen ohne diese kindliche Ehrlichkeit und Offenheit ist nicht Weisheit, sondern Herrschaftswissen. Wissen ohne diesen Gegenwartsbezug ist angesammelter "Schlaukrarn", der zum Haben führt, aber nicht zum Sein. Wissen ohne tiefes Mitgefühl ist Prinzipienreiterei. So wird die Gabe, Leihgabe, Aufgabe und Maßgabe "Kind" zuletzt auch Zielvorgabe: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...". Kind werden ist das Ziel allen Glaubens. Natürlich nicht im kognitiven Sinn - Paulus lehrt uns das kindliche Denken abzulegen - sondern: Kind sein im Vertrauen auf Gott, den Vater, der uns barmherzig begegnet und der uns wie eine Mutter tröstet. Das ist doch, was uns das Gleichnis vom barmherzigen Vater sagen will: Egal ob in der Fremde und Gottesferne, wie der jüngere Sohn, oder ob in der Nähe und in gesetzlicher und religiöser Unterwerfung, wie der ältere Sohn: wir haben uns selbst verloren, wenn wir uns nicht als Kinder wiederfinden, oder besser noch: von Ihm finden lassen. Die Zielvorgabe "Kind sein" heißt: Gott selbst ist Ziel meines Lebens.