Predigt über Johannes 3, 16-21, verfasst von Ulrich Haag
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"Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde.
Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der haßt das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, daß seine Werke in Gott getan sind."

„Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben erlangen.“
Nirgendwo im Neuen Testament findet man das Evangelium von Jesus Christus so knapp und treffend zusammengefaßt, wie in dieser handvoll Worte. Aber wie das so ist mit Merksätzen, oft auswendig gelernt, immer wieder zitiert und hergesagt: Sie schleifen ab, erstarren zu einem Wortgerinsel, das ich innerlich abhake, bevor ich es zuende gehört habe: Und also hat Gott die Welt... kenn ich schon, paßt nahtlos zu Weihnachten, danke, habe vieles gelehrte darüber gehört, auch selber nachgedacht, weiß was jetzt kommt, auf daß alle, die an ihn glauben nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben.
Verloren gehen ...
Das ist ein Mißton in den Weihnachtklängen.
In dieser Nacht der Versöhnung können Menschen verlorengehen?
In dieser Nacht der Liebe redet Johannes vom Bösen?
In dieser Nacht des weichen Lichts von Finsternis?
In der Tat: Diese Stille Nacht wird für Johannes zum gleißenden Tag des Gerichts, zur Stunde der Wahrheit, zum Moment der Entscheidung. Denn in dieser Nacht begegnen wir ihm, dem eingeborenen Sohn, treten an seine Krippe, schauen ihn mit unseren Augen. Und diese Begegnung entscheidet über unser Leben. Entscheidet über Wohl und Wehe. Entscheidet, ob wir gerichtet werden und den Rest unseres Lebens im Kerker unserer selbst verbringen. Oder gerettet. Entscheidet, ob wir verlorengehen oder zur Fülle des Lebens finden, weil wir glauben.

Glauben.

Was das angeht, sind wir doch eigentlich auf der sicheren Seite. Sind wir heute Abend nicht mit lauterem Herzen gekommen? Haben wir uns nicht redlich abgemüht, gekocht, gebacken, gekauft, gerichtet und alles geordnet, damit dieses Fest wirklich zum Fest werden kann? Und jetzt wohlverdient abspannen, entspannen. Gerade diese Entspannung, diese ganz spezielle Form der Weihnachtsschwere ist es, die in uns die Wachsamkeit und den Zweifel erlahmen läßt, sodaß wir bereit sind. Bereit, zur Krippe zu treten und anzunehmen, was das Kind uns schenken will. Bereit zu bringen, was das Kind von uns verlangt. Zu vertrauen, daß er der Heiland ist, Christus der Herr, in dieser Nacht geboren.
Aber Johannes verlangt mehr. Er verlangt mehr, als daß wir für einige Tage Gott einen guten Mann sein lassen und selbst in die Rolle von Kindern schlüpfen, die sich unter dem Schutz des himmlischen Vaters Schutz geborgen fühlen. Er verlangt mehr als bereitwilliges, kindliches Vertrauen, wenn wir ins Licht der Krippe treten.

„Wer die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, daß seine Werke in Gott getan sind.“

Die Wahrheit.
Gut, vielleicht hätten wir manchmal das Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“ konsequenter beachten sollen. Aber im großen und ganzen haben wir uns an die Wahrheit gehalten. Haben uns die Wahrheit gar etwas kosten lassen. In der Steuererklärung. Bei der Abrechnungen mit dem Handwerker. Als wir unseren gebrauchten Wagen verkaufen und den Käufer auf einen Mangel aufmerksam machen konnten, der nicht ohne weiteres ersichtlich war.
Haben anderen auch unangenehme Wahrheiten zugemutet.
Dem Vorgesetzten in Bezug auf die Arbeitsabläufe in der Abteilung. Der Nachbarin in Bezug auf die Pflege des Gartens oder den Zustand des Treppenhauses. Den Kindern deutlich gemacht, wo das endet, wenn sie so weitermachen. Den Eltern erwidert, wie das ausgeht, wenn sie so weiternörgeln. Wir haben die Wahrheit gesagt. Wir haben Wahrheit riskiert.

Und wir haben teilgenommen an vielen großen, übergeordneten Wahrheiten.
Daß der islamistische Terror weltweit die größte Gefahr darstellt. Daß wir uns in relativer Sicherheit befinden. Daß unser Sozialsystem nur zu retten ist, wenn wir die Leistungen für Arbeitslose rüde beschneiden. Daß der Krieg im Irak zur Selbstverteidigung unumgänglich ist – immerhin dieser Wahrheit haben wir uns entzogen. Und doch beschlich uns hier und da der Zweifel. Beschlich uns hier und da das Gefühl, daß es zu jeder Wahrheit immer noch einer zweite gibt. Eine spiegelbildlich verkehrte. Zum Krieg im Irak. Natürlich zum sozialpolitischen Kurs unserer Regierung. Natürlich zu unserer Steuererklärung. Natürlich zu dem, was wir unseren Kindern und was sie uns vorwerfen. Zu allem eine zweite Wahrheit, eine Gegenwahrheit und zu dieser wieder eine, eine dritte, eine vierte und wieder eine neue. Wie ein Meer aus einander widerstreitenden Wahrheiten, die alle in sich schlüssig, in sich stimmig sind.
Welche von allen ist nun die Wahrheit? Die wirkliche, echte, unhinterfragbare Wahrheit?
Beinahe stehen wir da wie Pilatus am Ende der Geschichte, die heute Nacht ihren Anfang nimmt – mit resignierter Gebärde und der leeren Frage: Was ist Wahrheit?
Pilatus wusch seine Hände in Unschuld. Seht her, ich habe alles versucht. Ich habe mit allen Seiten geredet, versucht, den Kompromiss zu schmieden. Die Wahrheit zu finden, die in der Mitte liegt...
Den Ausgleich suchen, die Übereinkunft finden, mühsam den Frieden zusammenbuchstabieren. Das ist ein Weg, sich in diesem Meer aus Wahrheiten über Wasser zu halten. Und nicht der schlechteste. Wer ihn versucht, mag hier und da zu einer Lösung vordringen. Die Erlösung findet, die Erlösung erlebt er nicht.
Andere schöpfen Festigkeit aus ihren eigenen Taten. Daraus, den Entschluß, den sie einmal gefaßt haben, beharrlich und dauerhaft zu vertreten. Und siehe da, irgendwann wird das, was sie so unbeirrt verfechten, tatsächlich zur Wirklichkeit. „Gestalten“, „Mitgestalten“ nennt man das.
Aber es gibt eben Wahrheiten, da kann ich nichts mehr tun. Gerade das sind die Wahrheiten, die über mein Leben entscheiden. Denen bin ich ausgesetzt. Es bleibt mir nichts übrig, als sie an mich heranzulassen. Ich kann nichts mehr machen – „es“ macht etwas mit mir. Ich muß es aushalten, muß wenn es sein soll, mich selber aushalten.

Was ist die Wahrheit meines Lebens?
Für den Evangelisten Johannes und viele seiner Zeitgenossen liegt in der Antwort auf diese Frage der Schlüssel. Wenn du dich selbst erkennst, wenn du deine Beweggründe erforscht hast, wenn du deinen Ängsten ins Gesicht siehst, wenn du verstehst, wer du selbst bist, wenn du die Wahrheit über dich selbst kennst und aushältst, dann wirft das ein Licht auf die Wahrheiten ringsum. Dann vermagst du zu unterscheiden zwischen richtig und falsch, zwischen Recht und Lüge. Gnoti seauton – so lautet das klassisch humanistische Erkenntnisideal. Auch ein Weg, in der Nacht der Wahrheiten nicht verloren zu gehen. Um die Menschen, die ihrer Wahrheit ins Gesicht sehen, verbreitet sich nicht selten eine Aura der Wahrhaftigkeit.
Doch was ist, wenn mir mein Unbewußtes die Sicht auf mein wahres Ich verstellt, weil es mich schützen will? Was ist, wenn ich bestimmte Vorkommnisse in meinem Leben, die mich geprägt haben, ausblende ohne es zu merken, weil ich mich unbewußt vor mir selber schützt?
Nein, nicht einmal meiner selbst kann ich mir sicher sein. Ich schwimme in einem Meer, taste mich durch eine Nacht aus Wahrheiten, in der ich mir am Ende selbst verloren gehe.

Doch plötzlich sehen die Hirten ein Licht.
Ein anderes Licht, als alles Lichter vorher.
Keines derer, die sich bei genauem hinsehen wieder als eine dieser relativen Wahrheiten entpuppen. Keines derer, die beim Aufgang der Sonne im Grau der übrigen Lichter verschwinden.
Ein Licht, wie sie noch keines gesehen haben.
Sie laufen. Laufen eilends.
Sie finden den Stall.
Sehen das Kind.
Und nun, wo sie ins Licht drängen, spüren sie plötzlich die dunkle Stelle, die jeder von ihnen in sich gefangen hält. Der erste hat vorige Woche beim Schafscheren fünf Pfund Wolle für seine Kinder abgezweigt. Der andere hat ein Auge auf die Frau am Ende der Gasse geworfen und quält sich Nacht für Nacht zwischen Sehnsucht und Treue. Dem dritten fressen schwarze Gedanken die Seele auf, er kann nicht ergründen woher sie sich speisen, doch los wird er sie auch nicht. Der letzte spürt, daß in seinem Körper etwas wächst, was da nicht hingehört, was ihm den Atem nimmt. Lange kann er es nicht mehr vor sich selbst verbergen. Sie alle tragen, schleppen etwas mit sich durch die heilige Nacht. Etwas, dass sie am liebsten draußen vor dem Stall lassen würden. Sie alle haben eine abgewandte Seite, eine Kehr- und Schattenseite, die im Dunkeln bleiben soll, während sie unsicher ins Licht lächeln, eine Hirtenweise anstimmen und das Kind anbeten.

In dieser Nacht treten wir ins Licht, wie wir sind.
Wir bringen nicht nur unseren Glauben mit zur Krippe, nicht nur unsere Sonnenseiten, wie die heiligen drei Könige ihre Geschenke. Wir bringen auch mit, was Schatten auf unser Leben wirft, setzen auch unsere Nachtseite dem Licht aus. Erinnerungen die weh tun, Fehler, für die ich mich schäme. Verletzungen, für die ich heute noch Vergeltung üben möchte. Angst darum, wie es weitergehen wird. Davor, daß es nicht weitergehen wird. Angst davor, daß in mir etwas verkehrt ist. Daß ich verkehrt bin und nicht hier hin gehöre. Nirgends hin gehöre.

Das Kind in der Krippe sieht, was die Hirten mitbringen. Sieht sie an, erkennt sie, wie sie sind. Und liebt sie, weil sie so kommen, wie sie sind. Im Licht seiner Augen werden sie zu heilen Menschen. Im Licht seiner Liebe wird es auch in den dunklen Gegenden ihrer Seele hell. Auch auf die düsteren Wahrheiten fällt Licht – das Licht der Wahrheit Gottes, der nicht gekommen ist zu richten, sondern zu retten. Du bist ein gebrochener Mensch, ein unvollständiger. Du wirst nicht zu Ende leben, was du dir vorgenommen hast. Aber in meinen Augen bist du vollständig. Ich habe dich geschaffen. Ich verstehe, wie du geworden bist, was du bist. Ich will nicht, daß du verloren gehst. In meinen Augen bist du komplett. Und in meiner Welt, im Reich meines Vaters wirst du ein vollständiges Leben führen, ein erfülltes, ein Leben in Fülle.

Als veränderte Menschen gehen die Hirten zurück in die Nacht. Sie haben gesehen. Sie haben gehört. Sie sind gerichtet: Ihr Leben hat eine Richtung bekommen.
Unser Leben wird in den nächsten Tagen zur Ruhe kommen. Allein dadurch schon kann es in einer gehetzten Welt eine andere Richtung nehmen, Richtung auf Gott hin. Wir werden umkehren wie die Hirten. Wir werden Gott loben mit dem, was wir tun und ihn preisen mit dem, was wir singen. Auf diese Weise wird sie ganz langsam wachsen, aber unbeirrt: Die Wahrheit Gottes. Sie wird sich um uns her ausbreiten, sich verbinden mit ihren Nachbarn und schließlich die ganze Welt umspannen. Die Wahrheit Gottes wird Wirklichkeit und es wird sich erfüllen, was zuerst den Hirten gesagt ward und heute, in dieser Nacht, uns: Ehre sei Gott, Friede auf Erden, ein Wohlgefallen den Menschen. Amen.

Ulrich Haag, Aachen
haag@ekir.de