Text: Johannes 1, 15-18
Verfasser: Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
Liebe Gemeinde!
Weihnachten und Jahreswechsel sind vorüber. Mit Epiphanias, dem Fest der
Erscheinung, zugleich Weihnachtstermin in der östlichen Christenheit,
verabschieden wir uns gleichsam von der Festzeit und wenden uns dem
angebrochenen Jahr zu. Noch zögert die Hand, wenn es die neue Jahreszahl zu
schreiben gilt; man kommt erst allmählich in das Neue hinein. Und das erst
recht, wenn das Neue nicht nur ein Jahr ist, sondern eine rundherum neue Zeit:
Bekanntlich stellen wir unseren Kalender nach Weihnachten und zählen hiernach
die Jahre. (Daß dabei in der astronomischen
Berechnung ein kleiner Fehler unterlief, ist ohne Belang.) Diese neue Zeit, die
Jahre des Herrn, ist so neu und andersartig, daß wir,
ja wir: die Christenheit, bis zum heutigen Tage noch nicht voll in sie
hineingelangt sind - und dabei ist sie inzwischen längst zur alten Zeit
geworden! In der Tat, mit dem Anbruch des Neuen zu Weihnachten ist eine
Spannung in unsere Welt gebracht: die Spannung zwischen zwei Zeiten - also zwischen
zwei unvereinbaren Lebenszusammenhängen.
Da ist der alte, gewohnte, uns natürlich erscheinende Lebenszusammenhang.
Hier gelten Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in ihrer klaren
Unterschiedenheit: Was war, das war und ist dahin, und wir können es mit keiner
Zeitmaschine wiederholen. Was ist, das ist - bereits im Vergehen; doch noch hat
es Bestand und Dauer, noch kann man es nutzen, auskosten; und so nutzen wir’s
nach Möglichkeit und kosten es aus. "Und jetzt...!" sagt der talk-master, und wir lassen uns ins Jetzt fallen. Denn
morgen - was da sein wird, weiß kein Mensch. Doch ganz so klar trennen sich die
Zeiten nicht. Die Wellen, die Martin Walsers Frankfurter Rede schlug, die
Reaktion von Ignatz Bubis und die abermaligen Diskussionen um die deutsche Vergangenheit
belehren uns, daß die Vergangenheit nicht einfach
vergangen und die Zukunft mitnichten völlig neu ist. Damit ist auch das Jetzt
nicht offen; es ist durch die Zeitzusammenhänge bestimmt. Das klingt
abstrakt; doch wir kennen dergleichen aus alltäglichen Zusammenhängen: Da sind
zur falschen Zeit die Hypothekenzinsen zu hoch, dort im falschen Augenblick
keine Fachkräfte zu finden und ein andermal zur Unzeit die Züge verspätet - und
und und, alles stets, weil
zuvor irgendetwas geschehen war, das seinerseits auf etwas beruhte... und so
immer weiter fort. Will sagen: Gewiß ist unsere Zeit
deutlich in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft unterschieden; jedes frische
Grab reibt’s uns ins Bewußtsein.
Doch wir spüren zugleich unmittelbar, daß sie wie
verfilzt sind miteinander. Es ist unsere Erfahrung: Was längst war, werden wir
nicht los, und was ganz sicher kommen wird und kommen soll, das - bleibt u.U. aus.
Und jetzt Johannes: "Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach
mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich."
Das ist die neue Zeit, die mit Weihnachten in die Welt kam. Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft erscheinen nun wie durcheinandergeschüttelt.
Denn der, der sie heraufführt, der sie ausmacht: das Krippenkind, der Gottessohn,
er umspannt Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Auch das klingt abstrakt -
jedoch nur, weil wir so selten darauf aufmerksam sind. Vor gut zehn Jahren
erhielten wir eindrücklichen Anschauungsunterricht: In verwalteter und
diktierter Zeit beteten Menschen zu dem, der die Zeiten umspannt, der als der
Gewesene der Kommende ist. Sie beteten zu ihm, zu ihm als dem Gegenwärtigen;
und hieraus erwuchs ihnen die Kraft zu den Montagsdemonstrationen. Weil der
Gottessohn die Zeiten umspannt, wagen bis zum heutigen Tag in aller Welt
Christenmenschen das Haupt zu erheben: Der Herr wird kommen. In den Worten
unseres Glaubensbekenntnisses: "...von dort wird er kommen zu richten die
Lebenden und die Toten." Das letzte Wort spricht er.
Doch die Zeitenscheide reicht tiefer; die Spannung zwischen den beiden
Zeiten dehnt sich weiter: "Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus
Christus geworden." Mose und Christus als
Inbegriffe zweier verschiedener, miteinander nicht vereinbarer Zeiten: Das
zwingt zum Rückblick. Dabei kommt eine Geschichte vor Augen, in der die
anfängliche Verfolgung der Christen durch die Juden umgekehrt wurde und in
unvorstellbare Dimensionen der Bestialität führte. Zugleich jedoch zeigen sich
auch die Geschichten zweier Lebenslinien: hier die aus dem Gesetz, der Thorah, sich speist und darin eine seit Jahrtausenden
ungebrochene Identität beweist - bis hinein in die Vitalität des Staates
Israel; dort die aus "Gnade und Wahrheit durch Jesus Christus", die
freilich sich wandelten zu Werten und Begriffen, zu frommen und religiösen
Wörtern, unverbindlich wurden, jede Freiheit erlaubten und - durch und durch
heimatlos werden ließen. Es sind Geschichten von eingelebter Stabilität hier
und nie überwundenen Einlebensschwierigkeiten dort.
Aber auch das ist nicht alles. In dünnen Linien eingeflochten in diese
Geschichten sind Ereignisse und Zusammenhänge, die die "Gnade und Wahrheit
durch Jesus Christus" lebendig werden lassen - von Mönchen, die alles
Eingelebte aufgaben, auszogen und z.B. Europa missionierten und z.T. auch kultivierten, über Priester und Professoren, die
einseitig allein auf das Evangelium von Jesus Christus setzten und dadurch im
16. Jahrhundert die Welt umkrempelten mit Folgen noch in der Gegenwart, bis hin
zu den vielen Bekannten und vielen, vielen Unbekannten, die in unserer Zeit in
Diktaturen und Weltanschauungsstaaten für die Wahrheit stehen und dabei allein
noch aus der Gnade Jesu Christi leben konnten oder leben. Es sind diese dünnen
Linien, die einen Eindruck dessen entstehen lassen, was zuinnerst diese neue
Zeit ausmacht, die mit Weihnachten anbrach, die Zeit des Herrn, die Zeit aus
Gnade und Wahrheit.
Doch mehr als einen Eindruck nicht - wir sind eben nicht richtig
hineingekommen. Darum weiß ich nicht, ob auch wir sagen können: "Von
seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade." Mich quält der
Verdacht - ja er quält mich: daß wir alle aus seiner
Fülle Gnade um Gnade genommen haben, nämlich zugelangt und abgestaubt, also daß wir aus seiner Fülle schmarotzt haben mögen. Es ging so
gut, so leicht, so einfach; doch wir fühlten zuwenig dabei. Damit aber
verloren wir das Vermögen, dem standzuhalten: "Niemand hat Gott je
gesehen." Denn es lastet auf uns, daß Gott
unsichtbar ist. In seiner Unsichtbarkeit ist er nicht nur allenthalben ohne
weiteres entbehrlich; in seiner Unsichtbarkeit ist er uns auch fern und wird er
uns immer ferner - ja überhaupt zweifelhaft. Es ist, als ob er sich entzogen
hätte und kein Leid und kein Schrei und kein Gebet und kein Elend ihn mehr
erreichte, womöglich berührte - wenn es ihn denn gibt. Ist uns seine Fülle
nicht mehr lebendig, so können wir seine Unsichtbarkeit nicht mehr ertragen.
Dann paßt auch der Weihnachtsschmuck nicht mehr. Dann
ist die neue Zeit verpaßt, sind wir - noch oder
wieder - in der alten.
Doch die alte Zeit ist nicht unschuldig. Inzwischen macht dies sie aus, daß selbst über die Lebensgrundlagen, nein, noch weiter:
sogar über die Voraussetzungen der Lebensgrundlagen überall und allenthalben - Menschen
bestimmen und verfügen: Politiker, Wissenschaftler, Lobbyisten, Moneymaker,
Techniker. Nichts und niemand kann sie hemmen, nichts
und niemand sie kontrollieren, nichts und niemand ihnen Grenzen ziehen. Wir
wissen es, wir sehen es, und wir spüren die Folgen. Es ist wie beim
Flaschenteufel: Einmal entwichen, kehrt er nicht mehr in sein Gefängnis zurück.
Und in dieser zunehmend wieder alles beherrschenden alten Zeit gelten ganz gewiß nicht Gnade und Wahrheit, auch nicht mehr das
Gesetz des Mose. Sondern da
gilt - ja, was eigentlich? Was gilt in ihr, was? Was hat
Gültigkeit und Vermögen, uns Lebenszusammenhang zu gewähren und eine richtige
Zeit zu schenken? Was hat die Substanz, in der Postmoderne zu bestehen und
durch ihre Strömungen und Verwirbelungen hindurchzutragen?
Man frage die Kids, die Börsianer, die Planer, die flexibilisierten
Arbeitnehmer - ! Was kann uns tragen, so tragen, daß
es uns Halt gewährt, wenn Gnade und Wahrheit überholt sind, abgelebt, nur noch
Vokabeln der Kirchentümer? Also wenn niemand mehr uns
gnädig ist, niemand, und wenn Wahrheit zur Frage der Zweckmäßigkeit wurde?
"Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns
verkündigt." Die so alt gewordene neue Zeit, die Zeit des Gottessohnes
und Herrn, steht auf Worten - auf bloßen, schwachen, mißbrauchbaren
und mißbrauchten Worten, auf Worten, die uns Gott
nennen und ins Bewußtsein drängen. Er bleibt
unsichtbar, auch in ihnen. Doch das ist nicht auszulöschen, daß
der eingeborene Sohn, das Krippenkind, uns den unsichtbaren Gott verkündigte
und dadurch erkennbar werden läßt. Daß er ihn als unseren Gott und Vater identifizierte. Daß er ihn uns als demütig und verletzbar zeigte, uns nahe
und unsere Misere teilend. Und diese seine Worte -
Die Worte der Kirche und der Wissenschaft verbrauchen sich; die Worte der
Weltanschauungen und Ideologien welken; die Worte der Heilsmoden und der Wege
zum Glück klingen nur für eine Saison. Die Worte des eingeborenen Sohnes, mit
denen er uns den Vater verkündigt, sind bis heute nicht verbraucht, sondern taufrisch,
wann immer wir uns auf sie einlassen. Vielleicht, daß
wir zu spüren beginnen: In dieser Frische dieser Worte, ja: bloßer Worte,
scheint etwas auf von der Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes, der uns eine
neue Zeit gebracht hat - eine Zeit, die nicht in Gesetz noch Wissenschaft
steht, sondern in dem, was uns so bitter fehlt: Gnade und Wahrheit. Solange
sein Wort uns den Vater noch verkündigt, ist diese Zeit da, steht uns seine
Fülle offen.
Amen.
Lied: 344 (Vater unser im Himmelreich)
Klaus Schwarzwäller
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