Pfr. Hanns-Heinrich Schneider (evangelisch)
über:
Psalm 90, 1-17

Kenzingen (bei Freiburg im Breisgau), am 20.11.2005
Ewigkeitssonntag/Totensonntag

Begrüßung:

Wer kennt das bekannte Bibelwort aus dem 90. Psalm nicht: "Lehre uns bedenken, Herr, dass wir sterben müssen, auf das wir klug leben?" Heute am Ewigkeitssonntag wollen wir aus unserem Gottesdienst heraus an alle Verstorbenen des vergangenen Jahres unserer Gemeinde denken. Erinnern heißt aber auch, sich selbst der Tatsache des Todes im Leben zu stellen. So wollen wir uns noch einmal trösten und gemeinsam daran erinnern lassen, wie begrenzt unser Leben doch ist, wozu wir leben und was unser einmaliges Leben eigentlich sinn- und wertvoll macht?

Der Herr verstößt uns nicht für immer. Auch wenn er uns Leiden schickt, erbarmt er sich doch wieder über uns, weil seine Liebe so reich und groß ist (Klagelieder 3, 31 + 32).

(Predigttext)

Liebe Gemeinde!

Wir alle haben inmitten der langen Geschichte der Welt unsere eigene Lebensgeschichte. Wir haben unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Mit unserem Verstand wissen wir, dass ja auch wir einmal sterben werden, denn das Leben hat noch niemand überlebt, der einmal geboren wurde. Und doch bleibt der Tod uns rätselhaft und fremd. Er holt uns, wo wir ihm begegnen müssen, aus unserem Alltag heraus, er unterbricht das Gewohnte und Gewöhnliche, denn wir spüren die Endgültigkeit und daher auch die Besonderheit des Todes für ein jedes Leben und damit für uns alle, die wir ja angesichts des Todes dennoch weiterleben

Heute feiern wir den Ewigkeitssonntag, es ist der letzte Sonntag im Kirchenjahr, der Sonntag vor dem ersten Advent, mit dem dann ein neues Kirchenjahr beginnt. Wir gedenken an diesem Sonntag aller Verstorbenen des vergangenen Jahres in unserer Gemeinde und erinnern uns an die Menschen, die mit uns das Leben teilten, die ihre Zeit in unserem Leben hatten und ihre ganz eigene Bedeutung für unser Leben. Wir erinnern uns an Eltern, Ehepartner, an verstorbene Kinder, Geschwister, Verwandte und Freunde, und wir denken an Menschen, die in der Nachbarschaft, im Beruf oder in der Freizeit mit uns zusammen lebten.

Die Erinnerung an einen uns vertrauten Menschen den wir verloren haben, lässt diesen in unserem Leben weiter leben. Kein Tod und kein Grab können uns unsere Erinnerungen nehmen, denn sie gehören zu unserem eigenen Lebensweg dazu, wie eine Narbe, die erst langsam und allmählich eine offene Wunde verschließt. Menschen stehen vor uns, wir erinnern uns an Vertrautes, erzählen von dem, was uns wichtig war und arbeiten nach und nach auf, womit wir nicht fertig geworden sind. Erst da, wo wir uns dem Tod stellen, werden wir erfahrene Menschen werden, Menschen, die auch um das Schattenhafte im Leben wissen, ohne diesem auszuweichen.

Der 90. Psalm, den wir eben hörten, gehört zu den ganz bekannten Psalmworten der Bibel und ist doch verkannt. Immer wieder hören wir ihn bei Beerdigungen, wobei es ihm viel weniger um den Tod selbst, als um das Leben vor dem Tod geht, mit all unseren Erfahrungen, Herausforderungen, Belastungen, den Höhen und den unabwendbaren Tiefen, unserer Freude und unserem Leid. Der Psalmbeter, wir spüren es, weiß um das Leben, um seine Möglichkeiten und Grenzen, er weiß um den Gott, der uns unsere Lebenszeit schenkt und sie uns auch wieder nimmt. Er weiß um alles menschliche Versagen und er beschwört seinen Gott geradezu, Mitleid zu haben, denn der Zorn Gottes kann doch nicht das letzte Wort zu unserem Leben sein.

Die Menschen jener Zeit brachten alle Schuld und alles Versagen in einen unmittelbaren Zusammenhang mit den Erfahrungen ihres Lebens. Sie wussten, dass es unmöglich ist, schuldfrei durchs Leben zu kommen und so fürchteten sie die Strafe Gottes, die dem alten Beter nur eine Möglichkeit ließ, sich aus seiner schuldverflochtenen Lebenserfahrung heraus, zu Gott selbst zu flüchten, ja ihm zuzurufen: "Kehr um, Herr! – Wie lange noch? - Hab Mitleid mit uns!", verbunden schließlich mit der Bitte, unsere Arbeit gelingen zu lassen.

Wie oft denken wir ebenso, wenn wir eine Krankheit, ja den Tod selbst mit einer schuldbeladenen Lebenserfahrung in Verbindung bringen, als hätte Gott es nötig, uns auf eine solche Weise zu strafen. Nein, so klein lässt sich Gott nicht glauben, aber der Psalmbeter rät immerhin: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug leben!" Das Wissen um das Ende unseres Lebens und um den Tod, soll uns zu einem Leben ermutigen, das vor Gott bestehen kann.

Vor genau 150 Jahren starb der bekannte dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard. Er, der wie kaum ein anderer seiner Kirche und deren beamteten Pfarrern einen kritischen Spiegel vorhielt, löste noch bei seiner Beerdigung einen Konflikt aus, weil ein Probst die Beerdigungsansprache hielt und Freunde dagegen lautstark protestierten. Sie witterten einen Verrat an dem Verstorbenen. In seinem Werk die "Krankheit zum Tode" sagt er:

"Sünde ist die Potenzierung der Verzweiflung" (Kierkegaard, S., Die Krankheit zum Tode, Düsseldorf, 1954, S. 75) und "Sünde ist Unwissenheit!" (Kierkegaard, S, a.a.O., S. 87). Mit seinem Denken ist er moderner und aktueller denn je. Wer von uns um einen Menschen trauert, weiß um die Verzweiflung. Aber so dürfen wir Christen ja fragen, warum trauern wir, wenn wir unsere Verstorbenen doch in der Gegenwart unseres Gottes glauben dürfen? Wir trauern ja nicht um unsere Toten, sondern wir trauern um uns, weil wir etwas unwiderruflich verloren haben, wir betrauern unseren Verlust. Und insofern ist "Sünde Unwissenheit!", weil uns unser Vertrauen, unser Glaube an Gott abhanden gekommen ist. Gott ist uns fremd geworden auf dem Weg in die Moderne und darum wissen wir oft nicht mehr, was unsere christliche Existenz eigentlich noch ausmacht und das nennt Kierkegaard die "Krankheit zum Tode".

Ja, wir dürfen um unsere Verstorbenen trauern, aber diese Trauer darf nicht in einer unendlichen Verzweiflung enden, sondern muss nach und nach in eine "Getroste Verzweiflung" (M. Luther) hinein reifen. Eine Verzweiflung also, die gerade nicht krank macht, weil sie vom Elend der scheinbaren Ferne Gottes verhaftet ist und durch die Unwissenheit zu einer Krankheit wird, die zum Tode führt. Auch wir dürfen doch, wie unser Psalmbeter in unserer Verzweiflung, der Einsamkeit, unserem Gefühl selbst am Ende zu sein, Gott in unser Leben hineinbitten: "Kehr um, Herr! – Wie lange noch? – Hab Mitleid mit uns!"

Gott, der uns das Leben schenkt und Gott, der uns das Leben wieder nimmt, ist doch die Klammer zwischen uns Lebenden und unseren Verstorbenen. Dort, wo wir unsere Toten in der Gegenwart Gottes glauben dürfen, sind und bleiben wir einander trotz des Todes und aller Trennung verbunden. Aber ein solcher Trost, eine derartige Zuversicht brauchen Zeit, Zeit zur Besinnung zu kommen, Zeit zum Nachdenken, Zeit eine solche Erfahrung für uns selbst und unser weiteres Leben aufzuarbeiten. Und das meint der Psalmbeter mit der Bitte: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug leben!"

Niemand von uns setzt sich gern mit dem Tod und seinen Folgen für uns auseinander, ein jeder von uns würde wohl nur allzu gern einen großen Bogen um dieses Thema machen, aber so einfach ist unser Leben nun einmal nicht. Wenn am Anfang unseres Lebens unsere Geburt steht, so wissen wir darum, dass das Ende eben dieses Lebens der Tod sein wird.

"Wo die Toten aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden, wird der Tod ubiquitär, er entfaltet seine Macht überall", (Uden, R., Totenwürde zwischen Discountbegräbnis und Erinnerungskultur, Deutsches Pfarrerblatt, 10/2005, S. 521), daher ist der konkrete Umgang mit ihm und die Erinnerung an unsere Toten so bedeutsam. Dieses Wissen zwingt uns buchstäblich in die Auseinandersetzung hinein oder wir verdrängen den Gedanken an den Tod und unser Ende, was unweit problematischer ist. Klug zu leben, das bedeutet doch dem Leben einen Sinn zu geben, sich an die Grenzen heranzufragen: Woher kommt das Leben, was macht es sinnvoll, wozu leben wir und warum muss es den Tod geben? Gerade ein solches Fragen wird sich dann auch der Frage stellen, gibt es diesen Gott für mich, den die Bibel und meine Väter und Mütter im Glauben bezeugen?

Wir haben in der vergangenen Woche den Abschluss der Koalitionsverhandlungen der neuen Großen Koalition erlebt. Viele von uns sind ratlos, wie es weitergehen wird. Aber: Haben es die, die die Mehrzahl der Deutschen in diese Koalition hinein gewählt haben nicht verdient, dass man sie nun erst einmal an die Arbeit gehen lässt, um dann zu beurteilen, was sie geleistet haben? In jeder denkbaren Koalition hätten Menschen ihre Zweifel angemeldet, doch nun besteht zumindest die Chance, dass Fragen aufgearbeitet werden, zu der keine Partei im Bundestag und Bundesrat allein oder in kleineren Koalitionen eine Mehrheit gehabt hätte. So sagte Kierkegaard vor über 150 Jahren angesichts seiner Welterfahrung:

"Man befürchtet im Augenblick nichts mehr als den totalen Bankrott in Europa", man vergesse darüber aber "die weit gefährlichere, anscheinend unumgehbare Zahlungsunfähigkeit in geistiger Hinsicht, die vor der Haustür steht..." (Matussek, M., Gegen das fromme Dösen, DER SPIEGEL, 45/2005, S. 192) Für die Erkenntnis "geistiger Zahlungsunfähigkeit", die also gar nicht so neu ist, können wir keine Politiker verantwortlich machen. Hierfür sind wir selbst verantwortlich. Ja, es liegt an uns, in wie weit wir uns zu neuen Hoffnungen durchringen. Der alte biblische Psalmbeter gibt uns ein großartiges Beispiel dafür, in dem er die Realitäten nimmt und beschreibt, wie sie sich für uns Menschen darstellen, aber dennoch mit Gott rechnet – gerade angesichts der Realitäten.

Und so mündet sein Gebet in der Bitte, dass Gott unsere Arbeit gelingen lassen möge. Nach all den beschriebenen Höhen und Tiefen menschlicher Existenz, seiner zeitlich gesetzten Grenzen, der Bitte darum, dass wir das Leben bedenken mögen, weil wir um den Tod wissen, kommt er schließlich bei dem an, womit sein Leben erfüllt ist, der täglichen Arbeit. Mit ihr geht es weiter, jeden Tag neu, solange uns noch ein Tag geschenkt ist. So lassen Sie also nun auch uns wieder an unsere Arbeit gehen und Gott mitnehmen so gut es uns gelingt – hier in Kenzingen, in Berlin, wo immer wir leben oder das Leben in unserer Welt verantwortlich zu gestalten ist. Alles andere wäre Verzweiflung und eine Krankheit, die zum Tode führt. Vertrauen wir unserem Gott, dem Gott, in dessen Gegenwart wir Lebenden und unsere Verstorbenen uns ebenso väterlich wie mütterlich aufgehoben fühlen dürfen.

Amen.


Literatur:

- Kierkegaard, S., Die Krankheit zum Tode, Düsseldorf, 1954, S. 75
- Kierkegaard, S, a.a.O., S. 87
- Matussek, M., Gegen das fromme Dösen, DER SPIEGEL, 45/2005, S. 192

- Uden, R., Totenwürde zwischen Discountbegräbnis und Erinnerungskultur, Deutsches Pfarrerblatt, 10/2005, S. 521

© Hanns-Heinrich Schneider 2005
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