Wolfgang Huber
03. Juli 2005
I.
Die junge Frau ist mir unvergesslich. In Ranchi im Norden Indiens lernten wir sie kennen. Sie fasst
Vertrauen und berichtet, wie sie sich auf ihre Hochzeit freut. Wen sie denn
heiraten werde, fragen wir in unserer Mitfreude. Das wisse sie nicht, antwortet
sie. Ihre Eltern hätten den Bräutigam ausgewählt; sie habe ihn noch nicht
kennen gelernt.
Uns ist eine solche Vorstellung fremd. Den
geliebten Menschen müssen wir selbst erwählen, das kann uns niemand abnehmen.
Inzwischen erlauben wir uns dabei mancherlei Fehlerquoten und finden, wir
müssten für die Wahl, die wir einmal getroffen haben, nicht unbedingt ein
ganzes Leben lang einstehen. Aber im Grunde wissen wir, dass das verkehrt ist.
Einen Menschen zu erwählen, heißt, zu ihm ohne jede Einschränkung ja zu sagen.
Wenn ein Sohn seinen Eltern das erste Mal die
von ihm geliebte Frau vorstellt, oder wenn eine Tochter ihre Eltern mit dem
Mann bekannt macht, den sie liebt, dann tun die Eltern gut daran, die Wahl mit
Respekt wahrzunehmen. Einwände der Eltern werden Sohn oder Tochter in ihrer
Entscheidung nur bestärken. Der Sohn hat die Frau seines Lebens nicht gewählt,
weil sie die reichste, am besten ausgebildete oder schönste ist, die sich
denken lässt. Er hat sie ausgewählt, weil er sie liebt. Die Tochter hat sich
für den Mann ihres Lebens nicht entschieden, weil er am besten verdienen und
sich am fürsorglichsten um die Kinder kümmern wird. Wie das geht, wird sich
erst noch weisen. Ihre Liebe gilt ihm.
Die großen Weichenstellungen unseres Lebens
haben es mit einer solchen Wahl aus Liebe, mit einer solchen Erwählung zu tun.
Menschen erwählen einander und teilen das Leben miteinander. Sie widmen ihr
Leben einer Aufgabe, der sie sich ganz hingeben. Solche „Erwählung“ ist
der Stoff, aus dem unser Leben gemacht ist.
II.
Erwählung ist auch der Stoff, aus dem Gottes
Verhältnis zu uns Menschen gemacht ist. Fürchte dich nicht, denn ich habe dich
erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Diese Zusage
Gottes haben wir vorhin unserem Täufling Arwin Semmler
zugesprochen. Wir haben Gottes Liebe bezeugt, die diesem Menschenkind gilt,
ungeteilt und ohne jeden Vorbehalt. Es ist eben ein Gotteskind. Wir haben uns
daran erinnert, dass Gottes Liebe jeder und jedem von uns zugewandt ist. Es ist
eine Wegzehrung, die wir dringend brauchen.
Zu den Besonderheiten der biblischen Botschaft
gehört, dass sie diese göttliche Erwählung nicht nur einzelnen Menschen
zuspricht, sondern auch einem Volk – dem Volk Israel. Besonders eindringlich
geschieht das in den großen Reden, die sich im 5. Buch Mose
finden. Sie sind ein Vermächtnis des Mose vor seinem
Tod und vor Israels Übergang über den Jordan in das von Gott verheißene Land.
Die Befreiung aus Ägypten ist gelungen, die
lange Wüstenwanderung ist überstanden. Aber in dem Land, das Gott verheißen
hat, wohnen auch andere Völker. Wie kann Israel da bestehen? Es kann bestehen,
weil es erwählt ist. In der Predigt des alten Mose an sein Volk heißt es:
Du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem
Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen
Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der HERR angenommen und euch
erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker - denn du bist das kleinste
unter allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid
hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat er euch herausgeführt mit
mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des
Pharao, des Königs von Ägypten. So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein
Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis
ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und
vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht,
zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. So halte
nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du
danach tust. Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so
wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er
deinen Vätern geschworen hat.
III.
Keine Liebesgeschichte hat mehr Widerspruch
geweckt als die Erwählung Israels. Diese Einwände äußern sich bis zum heutigen
Tag immer wieder in Formen der Judenfeindschaft und des Antisemitismus, die
beschämend sind. Unter heutigen Schülern ist "Jude" ein
vergleichbares Schimpfwort wie "Looser".
Die Vorstellung von der Erwählung eines
Kollektivs trägt allerdings auch ein tiefes Problem in sich. Sie verbindet sich
leicht mit dem Gedanken, die einen seien den andern überlegen. Auch die Rede
des Mose enthält solche
Töne, wenn sie Gottes Barmherzigkeit denen vorbehält, die ihn lieben, und seine
Vergeltung denen ankündigt, die ihn hassen. Dadurch soll die Mahnung
unterstrichen werden, sich an Gottes Gebote zu halten – eine notwendige
Mahnung. Aber dass Gottes Liebe durch solche menschliche Liebe erworben werden
könne, führt, mit allem schuldigen Respekt für den alten Mose,
in die Irre. Denn Gottes Barmherzigkeit lässt sich nicht erwerben, auch nicht
durch Gesetzestreue. Gott macht Israel nicht zum stolzen auserwählten Volk; und
die Heiden werden nicht zu Völkern zweiter Klasse. Die Erwählung Israels
erklärt sich nicht durch spezielle Qualitäten, die für Gottes Zwecke besonders
vorteilhaft sein könnten.
Denn diese Erwählung findet nicht im Rahmen
einer Stellenausschreibung statt: Gesucht wird ein Volk, das folgende
Qualitäten nachweisen kann. ... Ein solches Missverständnis mag vor dem
Hintergrund aktueller Erfahrungen nachvollziehbar sein. Heute müssen die
meisten Menschen sich der Mühle solcher Ausschreibungen aussetzen. Berufliche
Positionen erringt man nicht dadurch, dass jemand sagt: Ich habe dich erwählt.
Auch die abgeschlossene Ausbildung garantiert nicht mehr den entsprechenden
Beruf. Bewerbungen gehören zur Normalität des alltäglichen
Existenzkampfes. Die Hoffnung, dann der Glückliche zu sein, der aus der großen
Zahl der Bewerber ausgewählt wird, ist nicht nur aus Karrierestreben zu
erklären. In einer Gesellschaft, in der Menschen ihr Selbstwertgefühl noch
immer zu großen Teilen aus ihrer Arbeit beziehen, sind solche Bestätigungserfahrungen von erheblichem Gewicht.
Und doch geben sie über Wert und Würde eines
Menschen keine Auskunft. In der Predigt des Mose
heißt es: Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer
wäret als alle Völker - denn du bist das kleinste unter allen Völkern -,
sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren
Vätern geschworen hat.
Gott hat seine Zuneigung und Liebe in der
Erwählung Israels einem schwachen Volk in großer Not zukommen lassen. Mit einem
Kampf um eine Vormachtsstellung oder um Privilegien hat dies nichts zu tun. Die
eigentlich entscheidende Frage ist die nach dem Wozu der Berufung. Für
Israel bedeutet Berufung, auf die Treue Gottes mit eigener Treue zu antworten.
Deshalb haben die göttlichen Gebote eine so hohe Bedeutung. Denn in ihrer
Befolgung zeigt sich diese Treue.
IV.
Als Christen vertrauen wir darauf, dass wir
die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel auch für uns selbst weitererzählen
dürfen. Aber auch wir haben für unsere Erwählung kein anderes Unterpfand als
Gottes Liebe, die uns in Jesus Christus begegnet.
Auch die Kirche Jesu Christi ist kein Club der
Starken. Schon nach dem Zeugnis des Neuen Testaments ist das so; und es ist
heute nicht anders. Der Apostel Paulus berichtet, das Bekenntnis der Christen
zu dem gekreuzigten Erlöser erscheine den Griechen als eine Torheit und den
Juden als ein Ärgernis. Paulus aber kehrt diesen Gedanken um und spricht davon,
dass die Weisheit der Welt eine Torheit vor Gott ist.
Das ist ziemlich weitsichtig gedacht. Auch heute
wird die Botschaft Jesu Christi landauf landab immer wieder zur Torheit
erklärt. Deshalb bekennen sich so wenige im Alltag ihres Berufslebens dazu,
dass sie Christen sind. In der Wirtschaft, in den Medien, in den Schulen ist
diese Zurückhaltung besonders ausgeprägt. Es passt nicht in die Landschaft. Wo
nur der Eigennutz herrscht – oder wie man heute vornehmer sagt: die
Eigenverantwortung – , hat es keinen Sinn, sich dazu
zu bekennen, dass man auf die Nächstenliebe abonniert ist. Wo nur zählt, was
sich rechnet, hat es keinen Sinn zuzugeben, dass man mit Gottes
Liebe rechnet, von der man gar nicht wissen kann, wie sie sich auszahlt.
Und doch: Was in unserer Gesellschaft als
töricht gilt, trägt eine eigene Weisheit in sich. Wir gewinnen die
entscheidenden Gewissheiten für unser Leben nicht aus materieller Sicherheit.
Den Sinn unseres Lebens erahnen wir erst, wenn wir wissen, für welche Aufgabe
wir bestimmt, wofür wir erwählt sind. Erwählung bedeutet für uns als Christen,
in eine besondere und eben nur mir geltende Aufgabe meines Lebens gestellt zu
sein. Erwählung ist auch eine Zumutung, die über meine eigenen Kräfte
hinausgeht, für deren gutes Ende freilich Gott selbst bürgt: Fürchte Dich
nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; Du
bist mein.
Niemand wird dadurch abgewertet. Es geht um
eine Differenz ohne Diskriminierung, um eine Abgrenzung ohne Ausgrenzung. Nie
dürfen wir vergessen: Gottes erste Liebe galt dem kleinsten unter den Völkern.
Deshalb gilt sie auch heute den Schwachen, Ausgegrenzten ganz besonders.
Ich halte es deshalb für ein gutes
christliches Motiv, wenn wir in diesen Tagen aufgefordert sind, unsere Stimme
den Armen zu geben und Gerechtigkeit für Afrika einzufordern, wie es gestern
auch in unserer Stadt durch Aktionen und ein großes Konzert geschah. Und wenn
dabei ungewöhnliche Mittel ergriffen wurden, fördern sie hoffentlich den guten
Zweck. Ich jedenfalls habe um dieses Ziels willen gern neben Claudia Schiffer
gestanden. Und ich halte es für richtig, wenn einer unserer Kirchtürme, der
Kirchturm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, für diese Botschaft benutzt
wird: „Deine Stimme für die Armen!“ Denn ob wir unserer Erwählung treu sind,
zeigt sich darin, ob wir den Schwachen die Treue halten.
Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und
unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, wird nicht auf die Idee kommen, er
sei besser als andere Menschen. Aber er wird sich hineinstellen in die
Zeugnisgemeinschaft derer, die allein Gott die Ehre geben und sich deshalb für
den Mitmenschen beugen, der ihre Hilfe braucht. In diese Zeugengemeinschaft
ruft uns die Taufe. Darum haben wir sie heute gefeiert – in der großen
Zeugnisgemeinschaft der einen Christenheit auf Erden.
Amen.
Aus: http://www.ekd.de/predigten/050703_huber_marienkirche.html