Vom Wissen zur Gewissheit
Bibelarbeit über 5. Mose 6,1–7.20–25 ·
Zur Gemeinschaftsstunde am Sonntag, 5. Februar 2006
Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um eine
Bibelarbeit, die Pfarrer Volker Gäckle (Tübingen)
am 11. Juni 2005 im Rahmen des Christlichen Pädagogentags in
Walddorf gehalten hat.
Viele Fragen sind unter uns
aufgebrochen: in unseren Schulen,
unseren Kirchen, in unserer Gesellschaft.
Fragen, die von einer großen Verunsicherung geprägt sind, von einer Identitätskrise
unserer Kultur, von einer Wertekrise
unserer Zivilisation. Wir wissen heute
unendlich viele Dinge, wir erleben heute
– und Pisa hin oder her – wahrscheinlich die gebildetste Generation der Weltgeschichte. Das Weltwissen – also das auf der ganzen Welt verfügbare
Wissen – verdoppelt sich alle drei
Jahre. Und dennoch erleben wir
gleichzeitig eine große Gewissheitskrise. Wer
aber sich seiner selbst nicht gewiss ist, der gerät in Depression oder Aggression, der muss
verkümmern oder um sich schlagen. Da
kann er wissen, so viel er will. Was nun
für einen ganzen Kontinent gilt, das erleben
wir tagtäglich in der Schule, der Jugendarbeit und den Medien. Wir erleben eine Suche nach
Identität: Wer bin ich? Wer sind wir?
Nun geht es uns als Christen um mehr als nur um Hilfestellungen, damit das Leben rein äußerlich gelingt.
Es geht darum, dass Menschen gewiss werden. Es
geht darum, dass sie Gottes gewiss und dadurch auch ihrer selbst gewiss werden. Denn es gibt im
Allerletzten keine Selbstgewissheit ohne
Gottesgewissheit. Das hat kaum ein
anderer treffender zum Ausdruck gebracht
als Aurelius Augustinus in seinen Bekenntnissen: »Wir sind zu dir, Gott, hin geschaffen, und
unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe
findet in dir« (Aurelius Augustinus,
354–430 n.Chr.).
Wie kommt es aber nun zu dieser Gottesgewissheit, und wie kommt es über die Gottesgewissheit zu
einer Selbstgewissheit? Das sind
Bildungsfragen! Es ist kein Zufall, dass
im Wort Gewissheit das Wort »Wissen «
steckt. Gewissheit hat etwas mit Wissen zu tun.
Was muss ich wissen, um gewiss werden zu können? Diesen beiden Bildungsfragen möchte ich
anhand unseres Textes aus 5. Mose 6 nachgehen, und vielleicht spüren Sie nach dieser Einleitung das
Vorrecht, das wir besitzen. In einer
Zeit, wo eine ganze Kultur sich ihrer
selbst nicht mehr sicher ist, wo eine Zivilisation nicht mehr weiß, was einen Wert hat, was
Werte sind und was nicht, schlagen wir
nicht irgendein Buch auf, sondern die
Bibel. Und wir tun es im Wissen und deshalb
auch in der Gewissheit, dass wir in diesem Buch gültige Antworten finden auf unsere Fragen.
Das ist ein Vorrecht.
Wir stehen im 5. Buch Mose vor dem Einzug
Israels ins gelobte Land. Auch Israel
erlebte damals eine Übergangssituation.
Man hatte sich eingerichtet in der
Wüste. Das Leben funktionierte schlecht, aber es funktionierte. Würde es im neuen Land auch
funktionieren? Nach welchen Regeln würde
es funktionieren? Das 5. Buch Mose formuliert eine Art Testament des Mose,
eine Art Letzter Wille dieser großen Vaterfigur für eine folgende Generation.
Was sollte Israel seinen Kindern mitgeben, damit Gewissheit entsteht, und zwar Gottesgewissheit und Selbstgewissheit? Und wie hat Israel seinen
Kindern dieses vergewissernde Wissen
mitgegeben? Man kann dabei eine Fülle
von Beobachtungen machen, ich will mich
auf einige wenige beschränken.
Gewissheit erwächst aus der Gottesbegegnung!
Bildung war und ist niemals wertneutral und nach dem biblischen Anspruch soll sie das auch
nicht sein. In der Heiligen Schrift
beginnt und endet alle Bildung mit dem
Glauben an und dem Glaubensgehorsam gegenüber
Gott. In den »Sprüchen« wird das ganz klar: »Die Furcht des Herrn ist der Anfang der
Erkenntnis« (Spr
1,7). Entsprechend waren die Bildungsinhalte in
der familiären und später auch der synagogalen
Erziehung die Tora und die
Weisheitstexte Israels. Und die
Grundfragen waren:Wer ist Gott, und was ist sein Wille?
Das ist bemerkenswert: Für die biblische Anthropologie ist Lernen und Verstehen, Begreifen und
Erkennen eigentlich nur in einem
Glaubens- und Wertegefüge möglich. Ohne
einen festen Glaubens-, Hoffnungs- und
Sinnhorizont wird Bildung »Glaubenslos «,
»Hoffnungs-los« und »Sinn-los«.
Nun kennt die Bibel auch so etwas wie eine Ethik des Wissens. Es kommt ihr nicht darauf an,
möglichst viel zu wissen, sondern das
Richtige zu wissen. Leben gelingt nicht,
indem man vieles weiß, sondern indem man
das Richtige weiß. Die Bibel weiß auch etwas
davon, dass es gut sein kann, manche Dinge nicht zu wissen – dass die Wissensgier des Menschen
auch sein Verhängnis werden kann. Es ist
hochinteressant, dass es immer mehr
Wissenschaftler gibt, die auf die Gefahren
der sintflutartigen Wissensvermehrung aufmerksam machen, die natürlich auch unser Schicksal ist. Vor einigen Jahren verstarb der amerikanische Bioethiker und Wissenschaftskritiker Erwin Chargaff, und genau
dieser Punkt war ein wichtiges Thema seiner
Arbeit: »Es wird nötig sein, dass die Völker
sich mit dem Gedanken befreunden, dass nicht alles Wissbare
wissenswert ist und insbesondere, dass die
immer zunehmende Beschleunigung der Erzeugung so genannten Wissens eine große Gefahr für
die Menschheit ist.«
Diese Ethik des Wissens wird schon auf den ersten Seiten der Bibel thematisiert, und auf diesem
Hintergrund ist es nun interessant, den
Bildungskanon des alten Gottesvolkes zu
betrachten. Es ist ein radikal einseitiger
Bildungskanon: Gott und sein Wille. »Die
Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang!« Dass
Wissen prinzipiell gut ist, ist keine
biblische Aussage. »Dies sind die
Gesetze und Gebote und Rechte, die der HERR, euer Gott, geboten hat, dass
ihr sie lernen und tun sollt ... damit
du dein Leben lang den HERRN, deinen Gott, fürchtest und alle seine Rechte und Gebote hältst ...«
Wir begegnen in der Bibel einer Bildungskonzeption, die sich gegen eine Trennung in Theorie und
Praxis sperrt. Wer biblisch gesehen
nicht tut, was er hört, der hat es auch
theoretisch nicht verstanden. Sicher ist Ihnen
schon einmal die umfassende Bedeutung des alttestamentlichen Wortes für »erkennen« begegnet: »Erkennen« heißt im Alten Testament, etwas
mit seiner ganzen Existenz, mit Herz,
Seele und Verstand »erfahren« (»... und
Adam erkannte sein Weib Eva ...«).
Aus biblischer Perspektive kann das Tun dem Verstehen auch zeitlich vorangehen: Israel soll den
Willen Gottes tun. Hier ist vom
Verstehen, das auf Erkenntnis beruht,
noch gar nicht die Rede. Natürlich: Israel
soll auch verstehen lernen, aber das muss nicht chronologisch vor dem Gehorsam geschehen. Der Erkenntnis- und Verstehensprozess kann parallel zum Gehorsam verlaufen oder diesem sogar
nachfolgen. Biblisch gesehen ereignet
sich das Verstehen oft während oder nach
dem gehorsamen Tun, nicht unbedingt vor
ihm.
Und nun sagt unser Text, dass Israel diese Worte »hören und festhalten« und sie seinen Kindern »einschärfen « soll. Im gesamten Orient bestand der erste Schritt des Lernens im Auswendiglernen. Der
antike Mensch lernte, indem er auswendig
gelernte Texte mit sich trug, die sich
in der Lebens- und Glaubenspraxis nach
und nach entfalteten. Wer mit Kindern und
Jugendlichen arbeitet, der kennt die Schwierigkeiten des Auswendiglernens, und wir alle wissen, dass wir damit bei jungen Menschen keine
Sympathien gewinnen können, weil unsere
Lehrer sie damit bei uns auch nicht
gewonnen haben. Aber ich frage mich, ob
ich nicht manche Situation meines Lebens
besser bewältigt hätte, wenn ich mehr Lebensworte in meinem Herzen getragen hätte.
Die Gottesbildung und Lebensorientierung Israels vollzog sich erstens durch das Memorieren
seines Willens und seiner
Selbstoffenbarung und zweitens durch die
Gehorsamspraxis im alltäglichen Leben. Im
Alten Testament gilt: Wer den Willen Gottes weiß und tut, wird gewiss! Das ist zunächst einmal
die grundlegende Einsicht Israels. Vom
Neuen Testament her müssen wir jetzt
aber noch einen Schritt weitergehen. Hier
steht gerade die tiefe Erkenntnis des Scheiterns an diesem Willen im Mittelpunkt. Im Neuen Testament gilt: Das Wissen um den Willen
Gottes löst gerade angesichts des
Scheiterns eine große Verunsicherung aus:
»Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?
« Ich suche zwar die Gewissheit im Tun, aber ich scheitere immer wieder am Tun, und damit
bleibe ich ungewiss. Im Neuen Testament
entsteht Gewissheit nicht durch das
eigene Tun des göttlichen Willens, sondern
durch das Wissen um die Liebe dessen, der
den Willen Gottes getan hat. »Ich bin gewiss« –
nicht durch mein Tun und meinen Gehorsam, sondern durch die Liebe Gottes, die in Christus Jesus
ist, unserem Herrn!«
(Röm 8,38f.)
Die Grundstruktur ist jedoch hier wie dort dieselbe: Dort, wo sich Gott mir mit seinem Wesen und
Willen offenbart und diese Offenbarung
sich in meinem alltäglichen Leben
verankert, erfahre ich Gewissheit.
Gewissheit erwächst aus einer Herzensbildung
»Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben
von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute
gebiete, sollst du zu Herzen nehmen ...«
Das »Herz« ist ein Schlüsselbegriff
dieser Verse, und es ist biblisch gesehen
das Zentrum des Menschen. Im Herzen lokalisiert die Bibel den Willen, den Verstand und das
Gewissen des Menschen. Im Herzen fallen
die Entscheidungen. Das Herz ist die
Kommandozentrale des Menschen. Unsere
Lebensentscheidungen treffen wir biblisch
gesehen nicht im Kopf, sondern im Herzen.
Und dabei spielen noch ganz andere Dinge eine Rolle als unser Intellekt.
Ganz entsprechend ist nun das Herz die Hauptadresse des Wortes Gottes. Im Herzen entscheidet sich
das Schicksal des Menschen. Deshalb will
Gott unser Herz – und zwar ganz. Er
begnügt sich nicht mit unserem Intellekt,
nicht mit unserem Gefühl, nicht mit unserer
physischen Kraft, er will der Herr der Herzen
werden. Wir können Gott unser Herz nur
ganz geben oder gar nicht.
Das hat Konsequenzen für die christliche Bildung. Christliche Bildung wird sich niemals nur mit
der Ausbildung von immer mehr
Kompetenzen begnügen können, sie wird
immer zuallererst Herzensbildung sein.
Die Geschichte meines Lebens ist die Geschichte
des Dialoges meines Herzens mit Gott. Biblische Bildung zielt auf eine Veränderung des
Herzens ab: »Du sollst Gott lieben von
ganzem Herzen ... Und diese Worte, die
ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen
nehmen ...«
Aus der Veränderung und Umkehr des Herzens oder der Verhärtung des Herzens entspringt Segen
oder Fluch für Israel, und es ist kein
Zufall, dass Jesus im Doppelgebot der
Liebe dieses Wort aufnimmt. Nach allem,
was wir im 20. Jahrhundert erlebt haben, darf
es bezweifelt werden, dass Bildung und Wissenschaft von allein zu größerer Menschlichkeit führen.
Dies wird nur durch eine Veränderung der
Herzen, durch eine Herzensbildung
geschehen.
Wissen braucht einen ethischen Rahmen – oder um es noch deutlicher zu sagen: Wissen braucht eine
Gottesbeziehung, sonst wird es
zerstörerisch, und ich glaube, dass das
nicht nur für die Spitzenforschung in den
Labors gilt, sondern auch für uns und für die Kinder und Jugendlichen, die uns anbefohlen sind.
Dort, wo unser Wissen nicht rückgebunden ist an das Wort und den Willen Gottes, wird es bindungs-los und unverbindlich. Deshalb wird christliche Bildung immer das Herz eines Menschen im Auge haben. Es
genügt nicht, viel zu wissen, sondern es
geht um eine Veränderung unseres
Herzens. Es geht um von Gott qualifizierte,
um von Gott gebildete Persönlichkeiten.
Darum geht es uns auch in der christlichen Jugendarbeit. Junge Menschen sollen durch die Begegnung mit Jesus Christus, durch die Erfahrung
seiner Liebe, durch die Vergebung ihrer
Schuld eine Veränderung ihres Herzens
erfahren, damit sie anfangen zurückzulieben
und gegenüber anderen weiterzulieben.
Wie erfahre ich aber diese Veränderung? Auf welcher Grundlage kann ich zurücklieben, wie kann ich
weiterlieben?
Dazu noch ein letzter Punkt:
Gewissheit braucht Geschichte(n)!
»Wenn dich dein Sohn morgen fragen wird ...«, so heißt es am Ende dieses Textes. Hier geht es
um die Verständnisfrage:Warum
soll ich dies und jenes tun? Warum
sollte ich mir dieses Lebenskonzept aneignen?
Warum sollte ich den geforderten Gehorsam leisten? Warum sollte ich an diesen einen
Gott glauben und nicht an die vielen
anderen?
»Wenn dein Sohn dich morgen fragt ...« Unsere Söhne und Töchter fragen uns das schon heute – und zwar in aller Massivität und Aggressivität.
Heute wird diese Verständnisfrage einer ganzen Kultur um die Ohren gehauen. Wie wird diese Frage
nach dem Sinn und dem Verständnis denn
nun beantwortet?
Interessanterweise folgen nun keine philosophischen Erwägungen, keine ethischen
Fundamentalüberlegungen. Es folgt die
Erzählung einer Geschichte: »... so
sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte
des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten
mit mächtiger Hand; und der HERR tat große und furchtbare
Zeichen und Wunder an Ägypten und am
Pharao und an seinem ganzen Hause vor unsern
Augen und führte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unsern Vätern geschworen hatte ...«
Wir haben Gott nicht unser Herz gegeben, weil er eine gute Idee ist, die uns in einem genialen
Gedankenblitz aufgegangen ist. Wir geben
ihm nicht unser Herz, weil er uns ein
gutes Gefühl gibt, das wir nicht mehr
verlieren wollen, oder weil er uns in einem
ekstatischen Rausch überwältigt hat. Wir geben ihm nicht unser Herz, weil er uns eine brauchbare
Ethik bietet, mit der man halbwegs
unfallfrei zusammenleben kann. Nein, wir
haben Gott unser Herz gegeben, weil er
mit dieser Welt und mit unserem Leben eine
Geschichte in Gericht und Gnade begonnen hat, die von einem gewaltigen Liebeswillen geprägt
ist, und weil er uns in seine Geschichte
mit hineingezogen hat. Es ist eine
Geschichte der Befreiung und des Nach-Hause-Kommens.
Als Christen werden wir nicht mehr mit dem Pharao beginnen, sondern mit Jesus Christus. Er hat
uns befreit und nach Hause geführt. Aber
wir werden nicht aufhören, Geschichten
zu erzählen: die Geschichte von jenen
verlorenen Söhnen, die Geschichten von Zachäus, Matthäus und Bartimäus,
von Lazarus und Petrus, die Geschichte
vom Kreuz und der Auferstehung. Es
werden biblische Geschichten und persönliche
Geschichten sein.
Christen vergewissern sich und andere, indem sie Geschichte und Geschichten erzählen, in denen wir selbst uns wiederfinden
mit unserem ganzen Leben.
Wir erleben in unseren Tagen einen großen biblischen Analphabetismus, auch in unserem eigenen
Leben. Seien wir ehrlich! Und weil alles
Lehren mit dem Lernen anfängt, könnte es
ein Anfang sein, dass wir uns selbst
wieder von der Liebesgeschichte Gottes anstecken
lassen, sie uns zusprechen und vorlesen,
selbst gewiss werden und damit Gewissheit weitergeben können.
Denn nur Echtes bewirkt Echtes!
Und nur was von Herzen kommt, geht zu Herzen!
Entnommen aus dem Gemeinschaftsblatt des AGV