Wolfgang Huber
17. April 2005
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da
ist und der da war und der da kommt. Amen.
„Wenn dein Kind dich morgen fragt“: das ist
ein gewichtiges Leitwort für unser Erinnern. Sechzig Jahre nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs, anderthalb Generationen nach der Befreiung der
Konzentrationslager und unseres Kontinents von der Gewaltherrschaft des
Hitler-Regimes fragen wir nach unserer Verantwortung.
„Wenn dein Kind dich morgen fragt“: die
Passage aus dem Alten Testament, die wir gerade gehört haben, bildet auch das
Motto für den Deutschen Evangelischen Kirchentag, der in wenigen Wochen in
Hannover stattfinden wird. Das 5. Buch Mose, aus dem
sie stammt, enthält keine Kinderlehre. Es handelt sich vielmehr um Ratschläge
für Erwachsene dafür, wie sie mit den Fragen der Kinder umgehen sollten. Nicht
um Kinderlehre, sondern um Elternschulung handelt es sich. Die Weitergabe
prägender Erfahrungen an die nächste Generation ist das Thema. Welche
Erfahrungen sind prägend – welche geben wir weiter? So fragen wir am 60.
Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück.
In Ehrfurcht vor den Toten und in Hochachtung vor den Überlebenden stellen wir
diese Frage.
Martin Niemöller
– im 1. Weltkrieg U-Boot-Kommandant, später Pfarrer in Berlin - gehörte
zu den in Sachsenhausen Inhaftierten. Am Karfreitag 1938 empfing er im Konzentrationslager
das Abendmahl von Kurt Scharf, dem damaligen Ortsgeistlichen von Sachsenhausen.
Der Lagerkommandant Karl Koch lehnte eine seelsorgerliche Betreuung der
KZ-Insassen strikt ab. Doch Kurt Scharf, der spätere Bischof unserer Kirche und
damalige Pfarrer von Sachsenhausen, sah in dem Konzentrationslager einen Teil
seines Seelsorgebereichs. Immer wieder versuchte er eine Sprecherlaubnis bei
den Gefangenen zu erhalten, die aufgrund ihres christlichen Glaubens inhaftiert
waren. Die schlichte Einsicht, dass auch den Opfern menschenverachtender Gewalt
Seelsorge gebührt, gehört zu dem, was weiterzuerzählen ist – über den Wechsel
der Generationen hinweg.
Am 2. März 1938 war Martin Niemöller
zu einer Geldstrafe und zu Festungshaft verurteilt worden, die durch die
Untersuchungshaft als verbüßt galt. Verärgert über das milde Urteil ließ Hitler
Niemöller unverzüglich als seinen persönlichen
Gefangenen in das Konzentrationslager Sachsenhausen bringen. Er wollte die
Freiheit des Gewissens brechen. Es gelang ihm nicht. Auch das gehört zu den
unvergesslichen Lehren jener Zeit.
Am Karfreitag 1938 beteten Kurt Scharf und
Martin Niemöller gemeinsam den 69. Psalm. In diesem
Psalm wird das Los dessen geschildert, der um Gottes willen leidet, gefangen
gehalten und auf den Straßen und in den Gaststuben verspottet wird. Feinde
bedrängen ihn ohne Grund. Aber er vertraut auf Gott; denn „er hört dier Armen und verachtet seine Gefangenen nicht“. Diese
Lesung traf ganz unmittelbar die Situation der Häftlinge. Die Gestapo sah in
der Auswahl des Psalms eine bewusste Provokation und verbot Scharf weitere
Besuche.
Eine entsetzliche Erfahrung stellte für die
Gemeinde die Ankunft von 18.000 sowjetischen Kriegsgefangenen am Bahnhof
Sachsenhausen ab Ende August 1941 dar. Viele waren bereits auf dem Transport
gestorben. Ihre Leichen wurden auf dem Bahnhof gestapelt. Zur Ermordung der
sowjetischen Kriegsgefangenen errichtete die SS im Industriehof eine
Genickschussanlage, mit der sie mehr als 10.000 Gefangene tötete und
anschließend in Krematoriumsöfen verbrannte. Kurt Scharf erinnerte sich, dass
man bei drückendem Wetter den süßlichen Geruch von verbranntem Menschenfleisch
roch, der wie „eine physische Wolke bei feuchtem Wetter“, sonst aber wie eine
„psychische Wolke drückend über der Gemeinde“ lag. Jeder noch vorhandene
Zweifel an der menschenverachtenden Brutalität des Nationalsozialismus wurde in
der Gemeinde, so berichtete Kurt Scharf, durch diese Ereignisse beseitigt.
Wer heute die Gedenkstätte Sachsenhausen
betritt, vermag noch etwas von den menschlichen Abgründen des Bösen zu ahnen.
Jeder Schritt offenbart die Perversion und das menschenverachtende Planen und
Handeln des Nationalsozialismus. Das Krankenrevier – Ort so genannter
medizinischer Versuche an Häftlingen. Der Zellenbau – Folterstätte der SS. Der
Galgen mitten im Lager – Demonstration der den Henkern zuerkannten Macht. Unter
das Joch dieses Vernichtungswillens geriet das Schicksal der Tausende von
Menschen, die dem Regime auf die eine oder andere Weise missliebig geworden
waren. Hier sollte denjenigen die Freiheit des Handelns genommen werden, die um
der Menschenwürde aufbegehrten. Noch im Fallen verlangte Hitler selbst ihren
Tod. Hans von Dohnanyi ist ein Beispiel dafür, hier getötet am 9. April 1945,
wenige Tage vor der Befreiung des Lagers.
Unsere Kinder fragen uns nach den Maßstäben
unseres Lebens. Die Erinnerung an diejenigen, die hier ihr Leben ließen, hilft
uns dabei, diese Maßstäbe zu finden und unserer eigenen Schwäche zum Trotz an
ihnen festzuhalten. Im Licht dessen, was hier geschah, können wir wissen, warum
es wichtig ist, Gott allein die Ehre zu geben und den Nächsten zu lieben. Hier
in Sachsenhausen können wir spüren, wohin es führt, wenn der Allmachtswahn des
Menschen an die Stelle von Gottes Allmacht rückt und wenn die Verachtung des
andern die Liebe zum Nächsten verdrängt. Hier können wir immer wieder die
Antwort auf die Frage buchstabieren, warum wir uns im Gebet an Gott wenden,
warum wir Fremde aufnehmen, warum wir uns den schwächsten Gliedern unserer
Gesellschaft zuwenden und warum wir uns der Erinnerung an vergangenes Unrecht
stellen.
Das Volk Israel wurde aufgefordert, sich in
die Tradition der Mütter und Väter stellen: wir waren in Ägypten, wir wurden
unterdrückt, wir wurden befreit. Die kommenden Generationen sollen sich so
verstehen, als hätten sie all das selbst erlebt.
Heute begehen wir den Tag der Befreiung von
Ravensbrück und Sachsenhausen gemeinsam mit vielen europäischen Freunden. Wir
sind mit ihnen in der festen Überzeugung verbunden, dass die Unrechtsgeschichte,
die in den Abgrund führte, sich nicht wiederholen darf. Ich werde morgen nach
Moskau reisen, um mich gemeinsam mit dem Patriarchen der Russisch-Orthodoxen
Kirche an das Geschehen vor sechzig Jahren zu erinnern. Und gestern standen wir
an den Seelower Höhen und erinnerten uns der hunderttausend Todesopfer, die von
der letzten großen Schlacht des Zweiten Weltkriegs gefordert wurden. Welch eine
Dichte der Erinnerung!
Die Scham über die von Deutschen verübte
Gewalt und die Solidarität mit ihren Opfern muss fest im kulturellen Gedächtnis
verankert bleiben. Die Stimmen derer, die dieses Erinnern verdrängen und darin
gar einen Ausdruck „nationaler Befreiung“ sehen, dürfen in Deutschland kein
Echo haben. Deshalb müssen wir gerade in einer Zeit, in der die Zahl der
Zeitzeugen schwindet, der Erinnerungsarbeit einen festen Platz in unserer
Gesellschaft geben – und auch in der Arbeit unserer Kirchen. Dazu mahnt uns das
biblische Gebot: „Wenn dein Kind dich morgen fragen wird.“ Von der Befreiung
Israels aus der Knechtschaft in Ägypten sollen die Eltern erzählen, wenn sie so
gefragt werden. Von der Befreiung Europas aus der Sklaverei
menschenverachtender Gewalt haben wir zu berichten, wenn unsere Kinder uns
fragen. An uns ist es dann zu bekennen, worin wir unsere Überzeugungen und
Werthaltungen verankert wissen: darin, dass wir Gott allein die Ehre geben und
unseren Nächsten lieben.
Das ehemalige Konzentrationslager
Sachsenhausen erinnert an die menschenverachtende Behandlung der KZ-Häftlinge
und deren tausendfache Ermordung. Zugleich erinnert dieser Ort an das
Sowjetische Speziallager, das nach der Befreiung der KZ-Häftlinge hier
errichtet wurde. Die Asche der im Krematorium verbrannten Häftlinge und die
Massengräber aus der Zeit danach enthalten die Verpflichtung, allen Opfern
gerecht zu werden und sich der Geschichte unverkürzt zu stellen.
Der heutige Sonntag heißt im Kalender der
christlichen Kirchen „Jubilate“. Dieser Tag ist
geprägt von dem österlichen Jubel, der im Bekenntnis zur Auferweckung Jesu
Christi von den Toten den Sieg des Lebens über den Tod feiert. „Jubilate“ heißt für mich am heutigen Sonntag, dass wir in
den Jubel der vor sechzig Jahren befreiten Häftlinge einstimmen und die
Erinnerung an ihren Lebensmut im Herzen bewahren.
Durch unser Erinnern können wir dazu
beitragen, dass die Spuren der Hoffnung nicht verwischt werden. Wenn wir uns
erinnern, lernen wir, welcher Weg in die Zukunft führt: der Weg der
Barmherzigkeit und des Friedens.
Amen
Aus: http://www.ekd.de/predigten/050417_huber_sachsenhausen.html