Auslegung von 1Mose 42, 1 -
38
von Michael Strauch
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Inhalt:
Exegese:
zu 1:) Die Karten sind
neu gemischt (V.1-6)
Seit Kapitel 37 haben wir
von Jakob nichts mehr gehört. Es sind viele Jahre vergangen. Wie hat diese
Familie diese Jahre verbracht? Die Brüder, die doch alle wußten,
dass Josef noch am Leben war, wie gingen sie mit ihrem schrecklichen Geheimnis
um? Wie trösteten sie ihren Vater, wie gingen sie auf depressive Anwandlungen
ein? Und Jakob, wie ging er mit dieser Situation um? So, wie es oft geschieht
im Fall eines schweren Verlusts. Jakobs ganze Liebe und auch eine Art gluckenhafter Beschützerwille ergießt sich über den
Jüngsten: Benjamin. Die Brüder haben durch den Verkauf Josefs nichts erreicht.
Statt Josef steht nun der Liebling Benjamin an seiner Stelle. Doch niemand
bringt den Mut auf, die Wahrheit zu sagen.
Der Mensch ist ein Meister
der Verdrängung. Menschen können ein Leben lang mit Schuld leben, als wäre sie
nie geschehen. Mit der Zeit verblasst der Gedanke daran, man hat sich
Entschuldigungen zurecht gelegt und sagt sich, das
Leben müsse weiter gehen. Jakob die Wahrheit zu sagen würde noch mehr kaputt
machen. Doch Schuld läßt sich nicht wegradieren. Sie
ist da, immer präsent. Vielleicht verborgen, totgeschwiegen, unter vielen
Decken, in die Tiefen des Meeres versenkt wie eine „Altlast". Doch mit der
Zeit drängen die giftigen Kontainer nach oben. Schuld
hat ein ewiges Zerfallsdatum. Und es gibt Momente, oft nach vielen Jahren, da
tauchen sie auf: die Altlasten.
In Kanaan ist Hungersnot.
Jakob, ein alter, gebrochener Mann, staucht seine Söhne zusammen. Es ist, als
wollte er sagen: Ihr seid doch alt genug. Habt Ihr nicht die Zeitung gelesen?
In Ägypten gibt es Brot. Unser Geld können wir nicht essen. Auf was wartet ihr
noch? Muss ich mich um alles selber kümmern?" Die Brüder „sahen sich
an!" Jeder wußte es, keiner sprach es aus.
Schreckenswort „Ägypten!" Nein, sie konnten niemals ahnen, dass der große
Mann, der „Brotkönig" ihr Bruder war. Hätten sie es gewußt,
sie hätten keinen Zoll weiter sich vor gewagt. Aber allein der Gedanke an
Ägypten weckte in ihnen die totge- glaubten
Erinnerungen. Sie hörten innerlich das Schreien Josefs, das Bitten und Flehen,
die furchtbaren Tränen, das ausdruckslose Gesicht des Opfers, das widerliche
Geld, das heiß in ihren Händen brannte. Geld bekamen sie nun auch in die Hand.
Mit Geld sollten sie nun in den Fußstapfen ihres Bruders laufen, inmitten einer
Karawane als Sklaven des Hungers. Die Karten sind neu gemischt.
zu 2:) Es muss alles offenbar
werden (V.7-17)
20 Jahre ist es her. In
solchen Zeiträumen arbeitet Gott. Auch nach 20 Jahren will Gott, dass begangene
Schuld bereinigt wird. Und Gott, der die Brüder nicht bestrafen will, sondern
Ihnen helfen will, am eigenen Leib helfen will, zu begreifen, was Sünde ihrem
Wesen nach anrichtet.
Gegenstand der Lektion wird
Benjamin.
Die Brüder müssen den Weg Josefs nachgehen. Auch sie gelangen mit einer Menge
Menschen in Ägypten an. Auch sie kommen als „Knechte". Auch sie müssen
sich nun einem hohen Herrn unterstellen und sich vor ihm verbeugen. Auch sie
geraten in Gefangenschaft und müssen bitter auskosten, was es heißt, sich das
Hirn zu zermartern. Was es heißt, zu wissen, wie Vater Jakob wartet und sich
zerfleischt und sie können nicht eingreifen. Alles wiederholt sich, nur -
gnädig - in viel kürzerem Zeitrahmen.
Die Brüder kommen an. Josef
hat mittlerweile eine höhere Stellung als seinerzeit Potiphar
am ägyptischen Hof. Dann geschieht es. Die Brüder heben mit angewinkelten
Ellenbogen ihre Arme vor sich, knien nieder, sinken weiter bis ihr Gesicht den
ägyptischen Sand berührt. Josef fährt es wie ein Blitz durch den Kopf. Der
erste Traum geht in Erfüllung. Die Brüder beugen sich vor ihm. Josef „erkennt
seine Brüder"- nach 20 Jahren. Sie aber erkennen
den ägyptischen Lord nicht.
Josefs Weisheit, seine
göttliche Eingebung und heller Verstand sinnt nicht nach Rache. Vielleicht um
ein Haar, und er hätte seine Hof verdutzt stehen lassen und hätte die
verstaubten Viehhirten in seine Arme geschlossen. Aber - vielleicht - an den
Worten: ..."und der Eine ist nicht mehr...!" erkannt Josef, dass sie
ihre Vergangenheit nicht bereinigt hatten. Wenn nicht mit ihm, dann doch mit
dem Vater. Auch als er hört, dass der Jüngste, also sein voller, leiblicher
Bruder, der Sohn Rahels ihnen nicht von Jakob anvertraut wurde, ahnte er: die
Brüder müssen durch einen Gang der Eigenerkenntnis. Und er prüft ihr Gewissen
an der Haltung, die sie Benjamin gegenüber haben. Er ist in all den Jahren
„sein Stellvertreter". Hassen sie auch ihn? Übten sie auch an ihm
Mordanschläge? Oder lieben sie ihn?
Josef bezichtigt die Brüder
des Verrats. Alle Beteuerungen fruchten nichts gegen die Willkür antiker
Herrscher. Wenn diesem die Nase nicht passte, war er erledigt. Sie kamen in
Gewahrsam. Sie wurden von Josef bewußt
„stillgelegt", damit sie nicht mehr durch Aktivitäten ihr Gewissen
beruhigen oder ablenken konnten. Hier in Ägypten würden sie an jenen denken,
den sie verkauft haben.
Vielleicht kommt uns das
Verhalten Josefs brutal vor. Im Grunde bin ich sicher, dass Josef seine Brüder
liebte und sie immer geliebt hat. Aber an Stelle seiner frühen, geradezu naiv
anmutenden Offenheit ist nun weise Vorsicht getreten. Er weiß, das der kürzeste Weg nicht unbedingt der beste Weg ist.
Doch Josef weiß: es muss alles offenbar werden.
5. Die Toten kehren
zurück (V.18-25)
In diesem Abschnitt
erfahren wir ein weiteres Detail: Josef spricht nicht in hebräisch
zu ihnen, sondern er läßt einen Dolmetscher agieren.
Josef versteht aber jedes Wort und wird doch selbst nicht erkannt. Drei Tage
hat es gebraucht und die alten Wunden waren komplett aufgebrochen. Josef
entdeckt unter Tränen, wie die Brüder sich in Angst und Schrecken an ihren
Bruder erinnern. Nun taucht er auf: der Totgeglaubte,
der, „der nicht mehr ist!" Sie haben seine Seelenangst gesehen - nun
schmecken sie diese Angst am eigenen Leib. Sie haben sein Flehen um Gnade
gehört - nun verebben auch ihre Worte. Der Älteste reagiert wie wohl viele
ältere Brüder. Er reagiert wie jene, die sich nicht ganz die Hände schmutzig
gemacht haben und doch der vollen Schuld teilhaftig sind. „Habe ich euch nicht
gesagt? Ihr wolltet nicht hören...!" Josef wendet sich ab. Er leidet
erneut. Doch er weiß: sie fürchten um geheimnisvolle Kräfte der Rache. Dass
Gott sich an ihnen rächt für die begangene Sünde. Aber auch in dieser Not
denken die Brüder an sich. Es tut ihnen noch nicht von Herzen leid um Josefs willen. Doch der erste Schritt ist
getan. Der schwere Weg der Genesung beginnt. Josefs weiteres Handeln ist
geprägt voll weiser Symbolik. Er nimmt einen der Brüder nur gefangen. Einen,
wie einst auch einer der Brüder nach Ägypten mußte.
Er nimmt Simeon über den Jakob beim Segen später sagen sollte: verflucht sei
sein Grimm, weil er so gewalttätig sei. Josef gibt ihnen Brot und legt ihnen
das Geld in die Säcke zurück. Die Brüder haben Geld für den Bruder genommen,
Josef will nicht Geld für Brüder. Zugleich wird alles zu einem dramatischen
Verwirrspiel a la Shakespeare. Gott behält die Fäden in der Hand. Sein Plan
steht fest. Das Ziel ebenfalls. Genesung geschieht hier nur über den Weg der
Schulderkenntnis. Zu diesem Zweck muss der Totgeglaubte
wiederkehren.
4. Der Albtraum Jakobs
fordert neue Opfer (V.26-38)
Was wußte
Jakob? Beim Studieren der Geschichte Jakobs bekomme ich das Gefühl nicht los,
als wußte er, dass seine Brüder irgend
eine Schuld am Verschwinden Josefs hatten. Wie kommt es, dass er (V.36)
sagen kann: „Ihr habt mich meiner Kinder beraubt!" Haben die Brüder ihm
nicht offen dargelegt, dass sie unschuldig seien? Es ist ein Fluch, die Lüge zu
sagen und es wird einem die Lüge geglaubt. Und es ist ein Fluch, wenn man die
Wahrheit sagen will und die Wahrheit wird als Lüge verurteilt. Damals, beim
Josef, logen die Brüder den Vater an. Er glaubte ihnen und sie mußten mit dieser Schuld leben. Josef wußte,
dass die Brüder ihrem Vater diesmal die Wahrheit sagen würden, aber das Geld in
den Getreidesäcken würde ihre Worte vereiteln. Josef spekulierte darauf, dass
die erste Lüge ans Tageslicht kommen muss. Wie sehr haben die Brüder vor Josef
und Jakob beteuert: sie sind redlich, redlich und nochmal
redlich. Doch sie geraten in einen Strudel der Verwirrung. Denn noch ist die
alte Wahrheit nicht ans Licht gedrungen. Die alte Wahrheit vor 20 Jahren. Nun,
da Benjamin gefordert wird, wissen die Brüder: dem alten Vater Jakob die
Wahrheit über Josef zu sagen ist - selbst wenn sie es wollten - gefährlich für
Jakobs Leben. Es ist Ruben, der zu scheinbarer Heldentat greifen will: Meine
beiden Söhne für mein Wort! Die Dramatik dieser Situation ist kaum noch zu
überbieten. Jakob, der einst seinen Bruder betrog mit Arglist und Taktik, der
selber später von Laban betrogen wurde. Jakob, der
betrog und immer wieder erfahren mußte, dass er Opfer
von Betrug wurde - nun muss er erleben, wie das alte Schreckgespenst
wiederkehrt, generationenübergreifend. Die eigenen Brüder verkaufen einen der
Ihren und mittlerweile ihre Kinder. Mit Blut und Ehre wird gespielt in
gespielter Frömmigkeit. Doch Jakob will das Blut von Kindern nicht, will -
welch absurde Vorstellung - doch nicht Rache nehmen an seinen Enkeln! Zu Recht
lehnt er ab, zu Recht verweist er die Brüder in den Kerker ihrer
„Seelenangst!" Nicht immer andere sollen aufkommen, sie
selbst sollen die bitteren Kräuter schmecken. Bisher mußten Jakob und Josef leiden für den Unmut anderer.
Nun soll Gerechtigkeit geschehen. Und diese Gerechtigkeit trägt das Siegel
übergroßer Barmherzigkeit. Denn die Brüder haben den Tod verdient. Aber Gott
will mit ihnen Geschichte machen. Benjamin bleibt da. Die Brüder stehen vor dem
Vater da als Diebe, vor Pharao als Wortbrüchige und vor ihrem Bruder als
Verräter. Und über allem schwebt die Hand Gottes, der den Würgegriff des
Hungers noch enger zieht.
Kapitel 42 ist ein Kapitel der Schulderkenntnis. Die verschlungenen Wege,
die Gott mit einem Menschen geht, damit er erkennt und begreift am eigenen
Leib, was er anderen angetan hat. Gott will den Menschen nicht quälen, nicht
verfolgen, nicht ihm den Garaus machen. Er will, dass er reift durch Erkenntnis
der Schuld. Die Erkenntnis der Schuld ist der Beginn der Heilung. Der Heilung
von Beziehungen zum Menschen, die Heilung der Beziehungen zu Gott. Dafür nimmt
sich Gott viel Zeit.