Leben mit der Krankheit – Krebs –

 

1. Leben an der Grenze

 

 Hier blühen wir auf. Hier entfalten wir uns. Hier sind wir zu Haus. Darin sind wir unterwegs

 

Aber das geschieht nicht grenzenlos, denn dieses Land ist umschlossen vom Tod. Wohin wir auch gehen, in welche Richtung wir uns auch bewegen ständig stoßen wir auf die düstere Grenze namens Tod, allein schon durch schlichte biologische Vorgänge: Jeder Schnupfen, jedes Bauchgrimmen und jedes Kopfweh wird zum leisen Vorsignal auf der Strecke, an deren Ende der Tod auf uns wartet. Das Leben ist tödlich. Eines Tages wird jeder von uns die Grenze zum Tod passieren. Klug verhält sich der, der das nicht verdrängt und ausblendet, sondern der sich bereits heute nüchtern darauf einstellt. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden" (PS 90,] 2)

 

Machen wir uns bitte nichts vor: Wir alle tragen bereits unsichtbar unseren Totenschein mit uns herum es fehlt nur noch die Todesursache und das Datum

 Leid und Krankheit sind deshalb keine unnatürlichen Geschehnisse, wie man uns das in der Esoterik und in mancher pfingstlerischen Ecke gerne weismachen möchte, sondern sie gehören zum Inventar unserer Welt

 

Mitten in meiner Krankheitsteckte, kriegte ich auf einer Autofahrteine Kantate von Johann Sebastian Bach mit. Sie hatte den beziehungsreichenTitel: „Ich steh mit einem Fuß im Grabe"

Sie können sich vorstellen, mit welch gemischten Gefühlen ich gelauscht habe

Aber Bach hat Recht. Und die Wahrheit schadet nie

 

Grenzlage das ist unsere gemeinsameSituation.

 Deshalb habe ich es in meiner früheren Gemeinde als bestürzend und lebensfremd empfunden, wenn ich bei Trauerbesuchen von den Angehörigen erfahren musste: „Über seinen Tod hat derGroßvater nie geredet. Wenn wir davon anfingen, hat er schnell das Thema gewechselt und hat abgelenkt!" Wie töricht! Wir kurzsichtig! Wie gedankenlos gegenüber den Angehörigen, die dann meist mit völlig ungeordneten Verhältnissen klarkommen mussten!

Von dieser Haltung sollten wir uns als Christen bewusst absetzen. Gottes Wort schärft uns mehr als einmal ein: Grenzlage das ist Deine, das ist Eure gemeinsame Situation. Sie verbindet uns mit allen Menschen

 

Aber was macht uns „als Christen" so vermerkt es ausdrücklich unser Thema • hier anders? Was unterscheidet uns hier von denen, die sich nicht als Christen bezeichnen? Keineswegs dieses, dass unsd ie Grenze erspart bleibt. Auch für unsa ls Christen bleibt der Tod ein „Feind"(1 Kor 15,26), der uns das Leben nimmt, an dem wir hängen

 

Ich greife aus der Fülle dessen, was hier gesagt werden könnte, den entscheidenden Aspekt heraus: Als Christen denken wir stets Gott hinzu. Wir können uns das eigene Leben wie auch die gesamte Welt nicht mehr ohne Gott vorstellen. Damit leben wir nicht gegen die sichtbare Wirklichkeit, sondern wir sehen mehr als das, was uns die Sinne sagen. Wir rechnen mit Gottes unsichtbarer Wirklichkeit. Gott ist sozusagen immer dabei. Was wir erleben, sehen wir stets mit ihm zusammen. Das äußert sich in doppelter Hinsicht: • Wir sind glücklich, wei wir eine Prüfung bestandenen haben, weil wir auf einer bunten Sommerwiese liegen,

weil uns die Liebe eines anderen Menschen gut tut. Unmittelbar kommt uns der Gedanke an den, dem wir das alles verdanken, und wir stimmen ein: „Großer Gott, wir loben dich"

• Dann kommt es knüppeldick: Wir geraten in den Strudel von Misserfolgen, wir stehen an Gräbern. Und dann stimmen wir vielleicht erst sehr leise und zögerlich mit Paul Gerhardt an: „Warum sollt ich mich denn grämen,

hob ich doch Christus noch. Wer will mir den nehmen?!" 

 

Hier leuchtet der Glanz christlichen Glaubens auf: Wir sind mit uns und unserem Leben nie allein. Der Gottesbezug rückt unser gesamtes Leben in ein Licht, das solchen, die diesen Hintergrund nicht kennen, fremd und irrig erscheinen muss

 Als Christen können wir nie über den Tod reden, ohne die Tatsache zu berücksichtigen, dass der auferstandene Jesus dem Tod die Macht genommen hat. Er wird über uns das letzte Wort sprechen. Unser Tod ist nicht unsere Endstation, sondern er wird uns Jesusleuten zum Türöffner in Gottes ewige Welt. Wir werden im Tod nicht ausgelöscht, sondern verwandelt. Deshalb haben wir auch im Alter noch Zukunft. Uns gehen die Lichter niemals aus. Die Grenze ist zwar vorhanden, aber wir kennen den, mit dem wir einmal diese Grenze passieren werden und der uns jenseits der Grenze endgültig in seine Arme schließen wird

 

Der Blick über die Grenze will deshalb bei uns Vorfreude auslösen und Zuversicht entbinden. Dazu ermutigen uns zahlreiche Bibelworte und ebenso viele Lieder der Christenheit

 

Grenzlage.

 Wir sehen sie mit Gott undseinen Wegen und Zielen zusammen. Lasst uns deshalb Gott dafür danken, dass wir leben dürfen, dass wir heute da sind. Das versteht sich nicht von selbst. Wo wir uns der Grenzlage bewusst werden, wird uns jeder neue Tag zu einem kostbaren Geschenk. Gott will uns haben. Sonst säßen wir nicht hier

  Wer sich in Grenznähe aufhält, kann einiges erzählen.

Denn wir sind als Christen keine Uberflieger. Das wird uns dann und wann schmerzlich bewusst:

 

2. GrenzErlebnisse

Die Grenze, die uns theoretisch klar ist, aber doch de facto weit weg liegt, kann uns plötzlich naherücken und damit bei uns Probleme auslösen, die sich vorher so nicht gestellt haben. „Der Grenz- und nicht der Normalfall stellt uns vor die eigentlichen Fragen" (Helmut Thielicke). Sie können unversehens vor uns auftauchen. So wie bei mir vor knapp zwei Jahren. Lassen Sie mich einige kleine Erlebnisse aneinander reihen

 

Bevor wir mit der Krankheit umgehen, geht die Krankheit mit uns um. Unversehens wird mir damals die Diagnose eröffnet: bösartig. Lebenserwartung bei Nichtbehandlung: wohl ein knappes Jahr

 

 Bisher kannte ich solche Befunde nur bei anderen, bei Gemeindegliedern in meiner früheren Gemeinde, bei Krankenhausbesuchen und sonst wo. Aber ich? Natürlich war mir klar, dass es auch mich treffen könnte. Aber gedanklich war das alles weit weg.

Nach dieser Diagnose wird mir taumelig zumute. Alles um mich herum wirkt schemenhaft, wie von düsterem Nebel überzogen. Man müsste nur richtig mitdem Kopf schütteln, und der Spuk wäre vorüber wie ein böser Traum! Aber dem ist nicht so. Die Wirklichkeit holt mich ein. Ich habe mich ihr zu stellen.

 

  Eine langwierige Behandlung setzt ein: Chemotherapie, dann Bestrahlung. Ein halbes Jahr hindurch

 

Manchmal ist mir, als lege sich ein fester Ring um mein Inneres, der immer enger gezogen wird. Wie lange werde ich noch zu leben haben? Dabei geht es mir vor allem um meine Frau, die Kinder und die Enkel. Werden sie bald ohne mich zurück bleiben? Dieser Gedanke setzt mir zu. Ich hole meine Unterlagen für den Nachlass und die Beerdigung hervor und bringe sie auf den neuesten Stand. Wer weiß, vielleicht werden sie bald benötigt?! 

 

Dazwischen kommen immer wiedermerkwürdige Anwandlungen:• Jede kleine körperliche Regung löst bei mir tiefe Ängste aus: Die Nase läuft. Was hat mir das zu sagen? Der Schweiß bricht aus. Ob jetzt das Ende naht? Oder entwickle ich hypochondrische Anwandlungen?• Obendrein habe ich ständig den typischen Krankenhausgeruch unter der Nase, diese eigentümliche Mischung aus Medikamenten und Desinfektionsmitteln

 

Daneben steht das andere: Täglich erfahren meine Frau und ich: „Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch" (PS 68,20). Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht Grund zum Danken haben: Die Behandlung schlägt unverzüglich an. Die Nebenwirkungen halten sich in Grenzen und sind erträglich. Ich gehe mit leichten Einschränkungen meiner gewohnten Arbeit nach und versehe die Dienste an denWochenenden. Lediglich die Sitzungen im Laufe der Woche kann ich wegen der zahlreichen Krankenhaustermine nicht wahrnehmen. Aber daran hat das ReichG ottes, so weit ich das bis heute einschätzen kann, keinen erkennbaren Schaden genommen. Täglich fallen kleine Steine vom Herzen. Täglich Grund zum Danken!

 

Dazwischen eigentümliche Erlebnisse,die noch vor Wochen weit weg waren: Der Haarausfall stellt sich unausweichlich ein. Wie kommt man an eine Perücke? Und wie geht man damit um? Wie kann man seine wenigen verbliebenen Haare so geschickt auf dem Kopf verteilen, damit der Eindruck überschäumender Fülle entsteht? Ein vergebliches Mühen! Aber da muss man durch! 

 

Auf einer Fußgängerzone bleibe ich stehen und beobachte das flutendeTreiben um mich herum. Ich werde an die Psalmworte erinnert, die ich oft bei Beerdigungen gesprochen habe: „Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben. Sie gehen daher wie ein Schatten und machen sich viel vergebliche Unruhe" (PS 39,6b.7). Wenn in einem so unverhofft die Frage nach dem eigenen Ende aufbricht, relativiert sich alles andere. Manches tritt als unwesentlich zurück. Anderes drängt in seiner Bedeutung nach vorn. Die Prioritäten werden neu gesetzt. Letztlich zählt im Leben nur das, was auch im Sterben tragen kann

 

Im Ostergottesdienst, den ich selber halte, geht mir blitzartig auf, dass ich mir in Psalm 118, den wir im Wechsel miteinander beten, selber zuspreche: „Ich werde nicht sterben, sondern leben, und des Herrn Werke verkündigen". Selbstverständlich habe ich dieses Wort lange vorher gekannt und auch ausgelegt. Aber jetzt, unter diesen Umständen, geht mir dasselbe Wort unter die Haut

 

Eines Nachts versuche ich zu schlafen

Aber die krampfartigen Schmerzattacken lassen das nicht zu. Der Schmerz nimmt alle Sinne gefangen. Weder Denken noch Beten sind möglich. Durch nichts kann ich mich ablenken. Wie schlimm muss das für solche sein, die Dauerschmerzen haben?! Sie sind dadurch regelrecht auf sich fixiert. Ihre Welt reduziert sich gleichsam auf den schmerzenden Bereich. Wie dichtete Wilhelm Busch im Blick auf Zahnschmerzen:„Denn einzig in der kleinen Höhle des Backenzahnes weilt die Seele". Bei mir sind es die Nieren. Oder? Gegen Mitternacht rufe ich im Krankenhaus an und erbitte Rat und Hilfe. DieÄrztin eröffnet mir, dass meine Schmerzen wohl durch ein Medikament ausgelöst werden, das die Produktion von weißen Blutkörperchen im Beckenknochen ankurbelt. Sie rät mir, zwei Schmerztabletten zunehmen. Das tue ich. Bald schlafe ich ein wie ein satter Säugling und werde erst imMorgengrauen wach

 

  Gott sei Dank, dass es Ärzte gibt, Medikamente und dass uns das in unseren Breitengraden auch zur Verfügung steht! Ich nehme das alles auch dankbar war, weil ich in der Dritten Welt unterwegs gewesen bin, wo das nicht selbstverständlich ist.

 

Viele Erkrankungen, die heute geheiltwerden können, waren noch vor einigen Jahrzehnten glatte Todesurteile. Ich habein der vergangenen Zeit gelernt, Gott reichlich für die Ärzte zu danken, die sich kenntnisreich und sensibel um mich gekümmert haben

 

  Natürlich habe ich gewusst, dass Gott mich durch ein unverhofftes Wunder plötzlich heilen kann. Aber mir war auchklar: Der Normalfall ist das nicht. Deshalb habe ich auch nicht um dergleichen gebetet, sondern um Heilung und Hilfe, jedoch so, wie Gott das für mich vorgesehen hat. Wenn dann ärztliche Kunst und wirkungsvolle Medikamente die Gesundheit wieder herstellen, nehme ich das dankbar aus der Hand meines Herrn

Gott wird es recht machen davon war und bin ich überzeugt. Sein Handeln ist stets wunderbar, so oder so.

 

 

3. GrenzErfahrungen 

 

Aus einzelnen Erlebnissen sollen bei uns Erfahrungen werden, aus einzelnen kleinen Punkten eine Linie, die unser Leben bleibend durchzieht. Gewonnene Erfahrungen prägen uns dauerhaft. Sie versetzen uns zum einen in die Lage, mit ähnlichen Situationen künftig besser fertigzuwerden. Zum anderen machen sie uns einfühlsamer, damit wir andere trösten und ihnen zu „Gehilfen der Freude"werden können (2Kor 1,24)

 

In der Kronkheitszeit wird es zu meinem ständigen Gebet: „Herr, lass diese schwierige Zeit an mir nicht geistlich spurlos vorübergehen, sondern forme mich so, dass ich durch mein Erleben anderen zum Segen werden kann!" AlsChristen leben und leiden! wir ja nicht nur für uns selbst. Wie wir eine Durststrecke durchstehen, das kann zu einer stillen Anrede für die werden, mit denen wir zu tun bekommen. Auch die Art, wie wir mit unseren Beschwernissen umgehen, kann zu einem Glaubenszeugnis werden

Das ist mein Wunsch und mein Gebet: MeineLage soll dazu verhelfen, dass die, die mit mir zu tun bekommen, umso mehr gesegnet werden. Denn das, was wir selber durchmachen, durchzieht unsere Verkündigung. Wir geben ja keine bloßen Inhalte weiter, die wir neutral und distanziert vermitteln, sondern alles wird durch das eingefärbt, was wir erleben

 

So erlebt es auch der Apostel Paulus

Im 12. Kapitel des 2. Korintherbriefes beschreibt er, wie er an harte Grenzen gestoßen ist. Ein schmerzhaftes Leidenquält ihn. Er bittet seinen Herrn Jesus Christus inständig, ihn davon zu befreien

Doch die Hilfe kommt für ihn anders, als er sich das vorgestellt hat. Jesus antwortet: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig" (2. Korinther 12,9)

 

  Am Erleben des Paulus lesen wir ab, dass unser Leiden in drei Schichten gesehen werden muss, die auf für uns undurchsichtige Weise miteinander verwoben sind:• 

 

Die oberflächlichste Schicht ist der „Pfahl im Fleisch" (2Kor 12,7), das schmerzhafte Leiden, das Paulus quält. Solche Leiden lassen sich meist deutlich beschreiben. Bei mir handelte ess ich um ein Lymphom, bei anderen vielleicht um eine Infektion, um einen Knochenbruch oder ähnliches. Doch darunter liegt die tiefere Schicht: Der „Engel des Satans" traktiert Paulus wie „mit Fäusten" (2Kor 12,7). Hinter jedem Leiden steckt eine schlimme Macht, die hintergründig mit allem Bösen und Negativen verwoben ist. Wa suns zusetzt, hat geheimnisvolle Fäden hin zum Teufel. Wir leben in einer gefallenen Welt, in der er sein böses Spiel treibt. Wir leben „jenseits von Eden" Das zeigt sich bei jeder Krankheit.

 

• Doch hinter unserem Leiden steht als eigentliche Ursache Gott selber: „Es ist mir gegeben" (2Kor 12,7). Damit umschreibt Paulus das Handeln Gottes: „Er hat mir gegeben". Hinter allem Bösen und Schlimmen steht auf geheimnisvolle Weise Gott selbst „Es ist kein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tue", weiß der Prophet Amos (3,6)

  Wir tun uns schwer mit diesem verborgenen und oftmals rätselhaften Gott. Sein Handeln bekommen wir auf keine Formel. Aber praktisch heißt das: Gott ist nicht nur für den gesunden Tag zuständig, sondern auch für den kranken, nicht nur für den Glücksfall, sondern auch für den Unfall; unbeschadet der menschlichen Verantwortung, die damit keinesfalls aufgehoben wird.

  Zu dieser tiefen Erfahrung sollen wir gelangen, denn sie hat eine eminente seelsorgerliche Bedeutung: Was mir auchzustößt ich befinde mich letztlich nie in den Händen von Menschen, im Beschuss von Bakterien, unter dem Störfeuer entarteter Körperzellen oder im Würgegriffdes Teufels, sondern ständig und überallin der Hand Gottes. Jeder Kummer stammt letztlich aus dem Herzen und aus den Gedanken Gottes. Der glaubende Mensch sieht dahinter oft nach aufreibender Zeit der Anfechtung Gott als Geber. Der kennt den Sinn, den wir nicht sehen. Das hat Paulus getröstet und ihm neuen Mut gegeben. Das kann auch uns aufrichten und in uns die Zuversicht auf den Gott wecken, der es gut mit uns meint, selbst dann, wenn das zunächst entgegengesetzt aussehen mag

  Diese Sicht hilft uns zugleich, mit dersattsam bekannten Frage noch dem „Warum?" umzugehen: Warum ich? Warum bin ausgerechnet ich krank geworden? Warum musste ich diesen Verlust ereiden? Ungezählte fragen so

  Doch diese Frage können wir nicht beantworten. Könnten wir das, wären wir selber Gott. Wir haben jedoch nicht Gottes Über-Blick, sondern nur einenbegrenzten Blickwinkel. Wir befinden uns nicht auf dem sogenannten „GottesStandpunkt", sondern müssen nüchtern zur Kenntnis nehmen: „Gott ist im Himmel, und du bist auf Erden" (Pred 5,1)

 Oder paulinisch gesprochen: Gott ist der Töpfer, und wir sind der Ton (Rom 9,20f)

 Das hält uns auf dem Teppich

 

 In einem anderen Bild gesprochen: Wir gleichen keinem Hubschrauber, der das Gesamtgelände überblickt, sondern eher einem kleinen Frosch auf der Frühlingswiese. Wir überschauen das Ganze nicht weder das eigene Leben, geschweige denn den Lauf der Welt. Unser Blickwinkel ist kläglich schmal, unsere Kompetenz winzig. Deshalb bringt uns das Fragen nach dem Warum keinen Frieden

 

Den gibt es nur, wenn wir uns bei dem Gott bergen, den wir nicht verstehen. Dort erleben wir: Die Frage nach dem Warum wird uns nicht gelöst, sondern sie wird aufgelöst so wie sich der Nebel auflöst, wenn die Sonne aufstrahlt

 Der morgendliche Nebel schwindet nicht durch technische Tricks und irgendwelche patenten Maßnahmen, sondern er wird schlicht und einfach von der Sonne durchdrungen und damit überwunden

 Die Sonne ist stärker

 

So auch mit der Frage nach dem Warum. Erst „im Heiligtum" (PS 73,1 7), d.h  in der Nähe Gottes, gehen uns Lichter auf. Wir werden in Gottes Seelsorge so geführt, dass wir einen neuen Standort gewinnen. Wir finden unter dem Kreuz von Jesus Frieden: Nur dort begegnet uns die Liebe Gottes in Reinkultur. Dass Gott mit uns Menschen gute Gedanken hegt, sagt uns weder der Blick in dieWelt noch auf das eigene Ergehen,sondern allein der Blick auf Jesus. Am Gekreuzigten lesen wir ab, dass Gottes Liebe auch in das Dunkel von Leid und ungelösten Fragen hineinreicht. Nur so lichtet sich der düstere Nebel des Warum.

 

  Wenn wir mit fragenden Menschenzu tun haben, wird unsere Hilfe deshalb wesentlich darin bestehen, die Gedanken auf Jesus zu lenken und sie zu ermutigen,sich ihm im Gebet anzuvertrauen. Dann geht einem auf: Mein Leid und Gottes  Liebe schließen sich niemals aus

 

 Alle Erklärungsversuche hingegen sind anmaßend. Sie fallen meist kläglich aus und helfen dem Leidenden nicht.

 Manche Christen haben leider das unstillbare Bedürfnis, anderen erläutern zu müssen, warum sie dies oder jenes durchzumachen haben. Sie benehmen sich so, als wären sie das Rathaus Gottes. Glücklicherweise bin ich von solchen „leidigen Tröstern" (Hiob 16,7), unter denen schon Hiob zu leiden hatte, verschont geblieben. Das alles ist gut gemeint, aber nicht gut. Wir sind für andere nicht der Heiland. Glauben an Jesus Christus ist kein Allerklärungsmittel. „Ich bin des großen Gottes Kind, nicht sein Geheimer Rat" (Matthias Claudius)

 

Bemerkenswert dazu ein Wort des katholischen Priesters Ernesto Cardenal aus Nicaragua: „Meistens nennen wir nur das Außergewöhnliche in unserem Leben Vorsehung oder das, was gerade in unsere Pläne passt und von dem wir meinen, dass es gut für uns ist. Wir sprechen von Vorsehung, wenn wir unverletzt einen Verkehrsunfall überstehen oder wenn wir im letzten Augenblick das abgestürzte Flugzeug verpasst haben. Wer denkt daran, dass auch das Umkommen bei einem Flugzeugabsturz gleichermaßenVorsehung ist?

Vorsehung ist nicht nur das Angenehme, sondern auch das Unangenehme, nicht nur das Außergewöhnliche, sondern auch das Gewöhnliche; nicht nur das, was geschieht, sondern auch das, was nicht geschieht. Wenn wir unseren Willen ganz dem Willen Gottes unterordnen, erhält jede Kleinigkeit, jedes Treffen auf der Straße, jederTelefonanruf, jeder Brief plötzlich einen Sinn. Dann erfahren wir, dass alles einen Grund hat und alles einer Vorsehung gehorcht. Dann fühlen wir uns sicher und vertrauensvoll und ruhig. Gott sorgt genauso für die Glühwürmchen wie für die Milchstraßen. Und kein Atombewegt sich ohne seine Zustimmung. Was kann uns dann schon in der Weltgeschehen?"

Damit sind wir bei dem angelangt, was uns hilft, mit unserer Grenze umzugehen:

 

4. GrenzHilfen

Auf einem Parkplatz in Brasilien kommt ein älterer Mann auf mich zu und spricht mich unvermittelt an: „Ich kenne Sie, und ich bete jeden Tag für Sie!". Das hat mich sehr berührt und dankbar gestimmt

 

In meiner Krankheitszeit habe ich intensiv wie nie zuvor erlebt, welcher Segen von der „Gemeinschaft der Heiligen" ausgeht. In unglaublich vielen Zuschriften haben mir Christen versichert, täglich für mich zu beten. In meiner schwierigen Lage stand ich nicht verlassen da, sondern wusste mich eingebettet in eine Scharv on Menschen, die mit mir den Weg des Glaubens gehen und nun regelmäßig für mich ihre Hände falten. Ich nehme diese Gelegenheit wahr, um denen unter uns zu danken, die für mich gebetet haben

 

Das hat Rückwirkungen auf mich bis zum heutigen Tag: Seitdem ist meine persönliche Gebetsliste länger worden. Ich bin offensichtlich getröstet worden, um nun andere zu trösten (2Kor 1,4)

  Viele Zuschriften wiesen mich auf Bibelworte hin. Andere zitierten christliche Persönlichkeiten. Stellvertretend für sie zitiere ich ein Wort, das von Franz von Sales stammt, einem katholischen Theologen und Erbauungsschriftsteller aus de rZeit nach Martin Luther: „Gott hat dieses Kreuz, bevor er es dir schickte, mit seinen allmächtigen Augen betrachtet, es durchdacht mit seinem göttlichen Verstand, geprüft mit seiner neuen Gerechtigkeit, mit liebenden Augen es durchwärmt, es gewogen mit seinen Händen, ob es einen Millimeter zu groß oder ein Milligramm zu schwer sei. Und er hat noch einmal auf deinen Mut geschaut, und so kommt es schließlich aus dem Himmel zu dir, als ein Gruß Gottes an dich, als ein Geschenkd er barmherzigen Liebe."

 

5. GrenzLehren 

Jede Erkrankung birgt auch Chancen in sich. Sie kann bei uns Veränderungen anregen und unser Verhältnis zu Gott und anderen Menschen klären und vertiefen

Jede Erkrankung hat ihre eigene Sprache

Was sie mir gesagt hat, füge ich abschließend wie Mosaiksteine zusammen:

 

• „Nimm dich bitte nicht so wichtig."  Das Reich Gottes steht und fällt nicht mit Deiner Anwesenheit. Gott ist auf keinen von uns angewiesen. „Der Herr bedarf seiner", wird bezeichnenderweise von einem Esel gesagt (Mt 21,3). Aber sonst geht es anders zu: „Gott begräbt seine Mitarbeiter, aber sein Werk setzt er fort", bringt es der englische Erweckungsprediger John Wesley auf den Punkt. Um dieses Werk geht es. Wir sind dazu da, für eine begrenzte Zeit Mitarbeiter und Handlanger zu sein, die ein bisschen beim Bau Gottes mithelfen. Aber es geht um diesen Bau, Gottes Reich in unserer Zeit. Deshalb sind wir nicht der Nabel der Welt. Unser Herr kann es sich leisten, uns für eine begrenzte Zeit beiseitezunehmen oder uns gänzlich aus dem Verkehr zu ziehen

 

• „Geh barmherzig mit leidenden Menschen um!" Wie oft habe ich bei Besuchen an kleinen Signalen der

Kranken vorbeigehört. Wie oft habe ich an Krankenbetten bereits an die nächsten Dienste gedacht. Nun, wo es mich getroffen hat, sehe ich leidende Menschen mit neuen Augen an. Ich kann mich besser als vorher in sie hineinfühlen: in ihre Beschwerden, ihre Ängste und Befürchtungen. Hoffentlich verflüchtigt sich diese Sensibilität nicht, denn ich erlebe es seitdem, dass vermehrt Menschen mit ähnlichen Leiden auf mich zukommen und mich ansprechen. Sie erhoffen sich ein offenes Ohr und ein wenig Verständnis. Beides ist zur Mange wäre geworden, weil Leiden im Denken unserer Erfolgs- und Erlebnisgesellschaft nicht vorgesehen sind, sondern als Sand im Getriebe verstanden werden. Da wird der Kranke schnell zum Stör- und Kostenfoktor

 

 • „Ohne mich kannst du nichts tun" (Joh 15,6). Ich lebe auf dünnem Eis

Der Boden, auf dem wir uns befinden, ist längst nicht so stabil, wie wir oft meinen. Täglich sind wir darauf angewiesen, dass wir das Maß an Gesundheit und Fitness zugeteilt bekommen, das wir brauchen. Wir haben uns selber nicht in der Hand. Aber „stark ist meines Jesu Hand, und er wird mich ewig fassen" (Karl Bernhard Garve)

 

• „Lebe versöhnt mit Gott und Menschen" In der Grenzregion kann es uns wie Schuppen von den Augen fallen, wie viel Liebe wir anderen schuldig bleiben. Die Bitte „und vergib uns unsere Schuld" gewinnt eine verstärkte Dringlichkeit. Wo haben wir Gott vernachlässigt? Wo hat sich bei uns alles um die eigene Achse gedreht? Wo sind wir mit anderen Menschen zerstritten? Wo sind durch unsere Schuld Mauern errichtet und Misstrauen gesät worden? Lasst uns so leben, dass wir einmal im Himmel jedem Menschen ins Auge sehen können, der

hier unseren Weg gekreuzt hat!  Was bleibt am Ende? Es ist das Wort unseres Herrn: „Lass dir an meiner Gnade genügen" (2Kor 12,9). Wir brauchen im Laufe unseres Lebens nichtweniger, sondern mehr Gnade. Je änger wir mit Jesus unterwegs sind, desto deutlicher spüren wir unser Unheil und Unvermögen. Desto dringender sind wir auf die Gnade angewiesen. Denn nurdie Gnade trägt uns immer und überall

Nur sie erweist sich als krisenfest. Nur dieGnade bleibt. Das letzte, gute Wort ist über uns gesprochen. Daran dürfen wir uns halten

 

Es bewährt sich gerade in den Stunden, in denen sich der Himmel über uns verdüstert: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig". Das lehren uns Zeiten der Krankheit: Die Gnade nimmt unseren gesundheitlichen Einbruch nicht einfach zurück. Sondern durch die Gnade werden wir schwache Leute zum Gegenüber, in dem Gott wirkt. In de rSchwachheit, nicht jenseits von ihr, kommt sie zum Zug. Gott hebt unsere Grenzlage nicht auf. Aber innerhalb aller Grenzen istdie Gnade da.

 

  Wir denken meist: Schwachheit und Kraft sind Gegensätze, die sich ausschließen, so wie Tag und Nacht, Regen und Sonnenschein. Entweder oder. Einmal dies, dann jenes. Eins nach dem anderen

Aber Paulus macht uns klar: nicht eins nach dem ändern, sondern eins im andern. Nicht: Früher war ich schwach. Nun bin ich fit und besser dran. Vielmehr: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig"

 

  Die göttliche Gnade zeigt sich also nicht erst dann, wenn Hindernisse beseitigt werden, Heilungen stattfinden und Gebete in unserem Sinn erhört werden. Wie viel Segen erfahren wir bis zum heutigen Tag auch dort, wo unsere Wünsche nicht erfüllt werden: Kranke, Sterbende, Menschen im Rollstuhl, Einsame. Durch alles Bittere schimmert bei Christen die Gnade durch. Deshalb ist Schweres nicht nur schlimm. Daraus kann Segen werden. In unserer Schwachheit und Armut kann etwas von unserem Herrn aufleuchten. Das macht uns nicht nur gelassen und getrost, sondern spornt uns an, unseren Herrn zu bezeugen und seine Gnade zu preisen. Darin liegt unsere Aufgabe. Das ist unser Lebensthema

Und unser Herr wird dafür sorgen, dass daraus Gutes wächst für andere und für uns.

 

 

 

Dr. Christoph MorgnerPräses des EvangelischenGnadauer

Wesentliche Auszüge aus einem Referat im Albrecht-Bengelhaus Tübingen