Werden die Mittelständler zu Proletariern?

DasiGewaltphänomen lenkt aber vom Kein des Problems ab. Das Problem ist der anarchische Weltmarkt, der"die Verantwortungslosigkeit der Wirtschaft fördert, zu einer Entbürgerlichung der Mittelschichten, zur Reproletarisierung führt und der die schlimmsten Formen des Kapitalismus begünstigt'. So sieht es John Gray, britischer Ökonom und besonnener Globalisie rungskritiker, in seinem Buch "Die falsche Verheißung - der globale Kapitalismus und seine Folgen". Letztlich geht es um eine Geisteshal tung. Für die Kapitalisten in Amerika definiert sie Edward Luttwak, einer der angesehensten Autoren in den USA ("Weltwirtschaftskrieg" und "TurboKapitalismus"), so: "In den USA herrscht ein säkularisierter Calvinismus, im übertragenen Sinne also der Glaube, daß der Wert des Menschen von seinem wirtschaftlichen Erfolg abhängt." Viel Geld, viel Ehr. Auch in Deutschland scheint das zum Maßstab zu werden. "Unternehmen Größenwahn" titelt ein Hamburger Magazin seine Ausgabe nach einer Fusion von Banken, und in einer Sonntagszeitung fand sich im Wirtschaftsteil der verräterische Titel: "Ethik stört die Performance" (Leistung). Nun sollte man von Bankern nicht erwarten, daß sie den Bankschalter zum Altar ethischer Grundsätze umbauen. Das ,wäre weltfremd. Aber der notorisch und mit Schuldnermiene vorgebrachte Verweis auf die Zwänge der Globalisierung hat den Nachgeschmack eines fadenscheinigen Alibis. Man beruft sich auf die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, die es zu steigern oder wenigstens zu hal ten gelte.

"Wettbewerbsfähigkeit": Nur eine Ausrede

Dabei ist diese Wettbewerbsfähigkeit ein potemkinsches Dorf.' Paul Krugmann, der nobelpreisverdächtige Star der wirtschaftswissenschaftlichen Szene, macht in diesem Sinn darauf aufmerksam, daß Handel und Produktivität in Wahrheit mehr eine regionale denn eine globale Frage seien. Beispiel Deutschland: Mit 1,3 % der Weltbevölkerung erzeugt man hier zwar gut 10 % des Welthandels, aber der größte Teil davon wird in Europa abge

wickelt. "Global" bedeutet vor allem "europäisch". Rund 95 % der deutschen Anlageinvestitionen verbleiben sogar im Inland. Von einem entfesselten Wettbewerb aller gegen alle kann keine Rede sein. Der Kunde ist vor Ort. Das war er schon im vergangenen Jahrhundert. Krugman weist nach, daß der internationale Handel heute, gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, nicht umfangreicher ist als vor hundert Jahren. Vor dem Ersten Weltkrieg sei England offener gewesen für internationalen Handel als die USA heute, und auch in den boomenden sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts habe man aus Niedriglohnländem nicht weniger in die USA importiert als jetzt. Die Idee, Länder konkurrierten miteinander ähnlich wie Coca Cola und Pepsi, sei "Schwachsinn". Länder könnten nicht bankrott gehen oder Konkurs anmelden. Konkurrenz sei eine Angelegenheit von Unternehmen. Nach Krugmann ist die Globalisierung vor allem eine Ausrede für die Politiker. Von einigen Branchen

abgesehen, die in der Tat global agierten, habe die Beschäftigung, d.h. der Arbeitsmarkt in den einzelnen Ländern, vor allem damit zu tun, daß die Leute weniger kauften und die Arbeiter durch Maschinen ersetzt würden. Deutschland, rät er, die Überregulierung abzubauen, die Gründungsbedingungen für Unternehmen zu erleichtern, die Kosten des Gesundheitssysterns zu begrenzen usw. - alles Möglichkeiten in Griffnähe.

In den Zentren: 1000/o Scheidungsrate

Die Zerstörung des Sozialen produziert das weltweite Unbehagen an der Globalisierung. Familie, Gemeinde, Staat und Gesellschaft werden oft nur noch als Faktor und Masse für die Inanspruchnahme eigener Wünsche gesehen; das Konkurrenzdenken durchdringt den sozialen und auch privaten Raum. Der homo ökonomicus ersetzt den homo sapiens. Schon der protestantische Moralphilosoph und Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaft Adam Smith (1723-1790) warnte vor der Versuchung des Reichtums: Die kommerzielle Gesinnung engt den Geist des Menschen ein, "und die heroische Gesinnung erstickt'. Wie erstickend der Kapitalismus sein kann, zeigt wiederum Luttwak auf. Immer schneller drehe sich die Maschine der Fusionen und Spekulationen. Der einzelne könne in diesem System nicht sicher sein, daß er seine berufliche und finanzielle Position lange hält. "Die" fehlende wirtschaftliche Stabilität

produziert Angst, und diese trägt

Spannungen in die Familien und bringt die Gesellschaft durcheinander. Inzwischen enden über 50 % aller Ehen in den USA in Scheidung - landesweit. Wo der TurboKapita~ lismus voll funktioniert, an der NewYorker Wall Street oder im kalifornischen Silicon Valley, beträgt die Scheidungsrate fast 100%. Dort ver.' langt das System so viel Energie und Zeit von den Leistungsträgern, daß sie sich nicht mehr um Beziehungen