Zusammenfassung aus dem Buch von Helmut Thielicke: Das Schweigen
Gottes ISBN 3-7918-1921-6 Quell Verlag.
Meine Gedanken habe ich darin eingearbeitet. Deshalb empfehle ich, das Buch selbst zu kaufen.

Themen: Neues Leben, verstehen, verzeihen, Feind, Liebe, Feindesliebe

Feindesliebe, wie kommen wir dazu?

Es ist erstaunlich, welche Schwierigkeiten wir oft haben, auch nur die schlichtesten und bekanntesten Begriffe des Christentums zu verstehen. Was heißt z.B. "Vergebung"? Was heißt "Rechtfertigung"? Das scheint uns oft – wenn wir überhaupt darüber nachdenken – außerplanetarische, meteoritische Stoffe zu sein, die mit den Metallen unserer irdischen Worte nicht legiert werden können.

"Alles verstehen heißt alles verzeihen"

Das bedeutet doch in der letzten Konsequenz: Wenn es mir gelingt, den psychologisch bedingten, zwangsläufigen Ablauf, der etwa zu einem Raubmord geführt hat, bis ins letzte und lückenlos zu rekonstruieren, kann ich dem Verbrecher nicht mehr böse sein, denn dann ist mir alles verständlich geworden.

Das heißt, es gibt gar keine verantwortliche Entscheidung zwischen Gut und Böse. Alles ist ein notwendiger, zwangsläufiger Prozess. Verzeihung ist nicht notwendig, weil ich die zwangsläufige Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung kenn und verstehe. Alle verstehen heißt, dass gar nichts mehr zum Verzeihen übrigbleibt, weil das Schreckliche, was das geschehen ist, notwendig war.

Hier denkt der christliche Glaube ganz anders. Gott versteht zwar alles (Psalm 139): "Du verstehst meine Gedanken von ferne" und "Es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht alles wissest."

Der Psalm zieht daraus aber nicht die Folgerung: Dann hast du mir Herr, keine Vorwürfe zu machen. Er sagt im Gegenteil: Es ist furchtbar, geradezu verzehrend, zu wissen, dass es jemanden gibt, der mich restlos durchschaut. Diesem Blick möchte ich mich entziehen. Aber wo ich auch hingehe, diesem durchschauenden Blick kann ich mich nicht entziehen. Letztendlich muss ich unter diesem durchleuchtenden Blick des Richters zu Grunde gehen.

Dieser alles verstehende Gott verstößt uns nicht. Gerade weil er unsere Herzen sieht, will er unser Vater sein.

Unser "böses" Handeln und Denken ist für unseren Gott keine kausale Folgerung. Deshalb bietet er sein Verzeihen an. Dann können wir wieder neu beginnen. Ich meine, immer wieder!

Feindesliebe

Auf den Befehl hin seine Feinde zu lieben wird wohl keiner schaffen. Eine Geschichte kann uns da weiterhelfen:

Bei einem Sturmangriff an der Westfront stürzt beim Handgemenge ein deutscher Soldat in einen Granattrichter. Dort findet er einen verwundeten Franzosen vor. Der Anblick des Mannes mit der tödlichen Wunde erbarmt ihn so, dass er ihm einen Schluck aus seiner Feldflasche gibt. Durch diese kleine Menschenfreundlichkeit entsteht sofort ein gewisser brüderlicher Kontakt, der noch innerlicher wird, als der Sterbende stammelnd von Frau und Kindern erzählen will, an die er abschiednehmend denkt. Er deutet auf seine Brusttasche. Der deutsche Soldat versteht den Wink, und holt aus seiner Brusttasche einige Familienfotos, über die nun der wehmütige, unendlich liebende Blick des Verwundeten gleiten. Der deutsche Soldat ist aufs tiefste bewegt. Eben noch hat er auf seine Feinde eingestochen. Und jetzt liegt einer dieser Feinde vor ihm – und ist kein Feind mehr. Der Andere tritt dem deutschen Soldaten auf einmal in einer völlig veränderten Weise gegenüber, und ihm wird jählings klar: Es gibt ja gar nicht nur das Freund-Feind-Verhältnis. Der Andere ist der Menschenbruder, der zu Hause, wie ich selbst, mit den der Familie mit den Lieben lebt, und Freuden und Kümmernisse hat, wie er selber.

Was also ist in diesem Granattrichter passiert? Hat der deutsche Soldat sich plötzlich an seine Pflicht zur Menschenliebe erinnert? Nein, es ist etwa ganz anderes geschehen: Statt dass er krampfhaft sein Gefühlsleben verwandelt hätte, war der Andere für ihn verwandelt, und darum – und nur darum – änderten sich dann die Gefühle. Darum, und nur darum konnte er den Anderen lieben.

So ist es auch mit der Feindesliebe. Am besten erkennt man das an der Peson Jesu. Wie konnte er, der Heilige, die Sünderin lieben? Wie konnte er angesichts der Henkersknechte beten: "Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Ob denn wohl sein Herz ganz unbehelligt blieb, von den feindlichen Reaktionen und der Niedertracht der Betrüger und Ehebrecher, auf die Grausamkeit der Peiniger? Sicher hat ihn das alles auch bewegt, sonst wäre er kein Mensch gewesen, wie wir.

Aber er sah diese anderen und feindlichen Menschen nicht nur in dem Koordinatensystem von Gut und Böse. Er sah sie nicht nur im Freund-Feind-Verhältnis, sondern er sah sie zugleich als die verlorenen Kinder seines Vaters, die zu etwas ganz anderem bestimmt waren, um die er trauerte, weil sie ihre Bestimmung verloren hatten. Sein liebendes Auge sah das Eigentliche in ihnen.

Seine Feinde lieben heißt also nicht, dass wir den Schmutz lieben sollten, in dem die Perle ruht; sondern es heißt: Die Perle lieben, die im Staube liegt.

Das war es, was der Vater in dem Gleichnis, in seinem Sohn sah. Und mit diesem Blick sieht uns unser Gott. Mit diesem Blick sieht er auch unseren Chef, unseren Nachbarn,.... . So sind auch wir aufgefordert: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.