Der Schatten des weltweiten Kapitalismus

Artikel aus Idea Spektrum von Jürgen Milinski


Das Unbehagen an der Globalisierung hat gute Gründe - wenn Ethik keine Rolle mehr spielt!


Mit dem Terroranschlag auf das Welthandelszentrum in New York wurde auch ein Symbol der wirtschaftlichen Globalisierung zerstört. So lag der Verdacht nahe, daß der Kampf gegen die Globalisierung ein vorrangiges Motiv der islamistischen Terroristen war. In ihren Pampheten behaupteten sie, daß ihre Anschläge angeblich dem Geld als dem Symbol einer jüdisch-amerikanischen Macht gelten. Hisbollah-Aktivisten nannten die Globalisierung gar einen permanenten Terrorismus. Doch tatsächlich haben die mörderischen Verbrechen von totalitär denkenden Islamisten nichts mit Globalisierungsgegnern zu tun. Sie handeln vielmehr selbst global, wollen sie doch die ganze Welt unter das Joch des radikalen Islam vom Typ Taliban zwingen. Indes - die Frage, wohin die Globalisierung führt, ist nach dem Terroranschlag noch brennender geworden.

VON JÜRGEN LIMINSKI

I
n Zeiten "brummender" Konjunktur fragt niemand laut nach der Ethik globaler Unternehmen. "Alle werden reich", lautet die Antwort der Analysten. Das ist seit mehr als einem Jahr anders. Es krachte an der Börse, auch schon vor dem Terroranschlag auf das Welthandelszentrum. Der Anschlag hat die Entwicklung nur beschleunigt. Wer Anfang des Jahres 10.000 Mark in die Werte des Neuen Marktes (Aktiengesellschaften der Computer- und Internetbranche) investierte, bekam bis zum 11. September nur noch 3.000 Mark zurück. Jetzt sind es vielleicht noch 2.000. Die Schatten der Rezession erreichen Europa und Amerika. Die Zahl der Arbeitslosen steigt. Das Christentum, selbst mit globalem Anspruch versehen, ist durch die Globalisierung elementar herausgefordert. Denn wenn alle Grenzen im weltweiten Strom von Arbeit und Kapital fallen, stehen auch christliche Werte zur Disposition: der Ausgleich zwischen Arm und Reich, Familie, Gemeinwohl. Der Unternehmer und katholische Theologe Michael Spangenberger sieht in dieser Frage eine Übereinstimmung der Konfessionen: "Christliche Wirtschaftsethik kann in Zukunft als ökumenische Aufgabe konzipiert werden."

Vorbild der Globalisierungsgegner ist ein Schafzüchter

Nicht erst seit dem Wirtschaftsgipfel von Genua formieren sich die Globalisierungsgegner. Sie wollen gerade ihre"Provinzialitäe', ihr soziales Umfeld, verteidigen. Ihr unumstrittener Held ist der Schafzüchter Jose Bove, eine moderne Ausgabe von Asterix. Von ihm sagt Henry Kissinger boshaft, er sei der einzige Franzose, der in den vergangenen Jahren wirklich etwas bewegt habe. Angefangen hat die Karriere des 48jährigen Bove vor drei Jahren, als er mit
Gleichgesinnten eine Filiale von Mc Donald's, Symbol der Globalisierung, zu Kleinholz schlug. Im letzten Sommer erschien sein Buch "Die Welt ist keine Ware", und er selbst erscheint immer da, wo die übrigens global vernetzten Anti-Globalisierer protestieren. Sie sind in der Tat gut organisiert. Die größte Vereinigung, "Attae", zählt rund 30.000 - allerdings weitgehend gewaltfreie - Mitglieder. Anders verhält es sich mit den rund zwei Dutzend sehr viel kleineren, aber ebenso durchgehend vemetzten Organisationen. Vor ihnen haben die Staatenlenker Angst. In Seattle, Melbourne, Prag und Davos sammelten sich die Gegner der Globalisierung, in Göteborg erreichte der Protest eine neue Dimension, in Genua gab es den ersten Toten, den ersten Märtyrer der Globalisierung. Gegen diese Chaoten muß und will man vorgehen. Man kennt solche Gruppen aus den siebziger und achtziger Jahren. Aus ihnen rekrutieren sich Terroristen.

Werden die Mittelständler zu Proletariern?

Das Gewaltphänomen lenkt aber vom Kern des Problems ab. Das Problem ist der anarchische Weltmarkt, der"die Verantwortungslosigkeit der Wirtschaft fördert, zu einer Entbürgerlichung der Mittelschichten, zur Reproletarisierung führt und der die schlimmsten Formen des Kapitalismus begünstigt'. So sieht es John Gray, britischer Ökonom und besonnener Globalisierungskritiker, in seinem Buch "Die falsche Verheißung - der globale Kapitalismus und seine Folgen". Letztlich geht es um eine Geisteshaltung. Für die Kapitalisten in Amerika definiert sie Edward Luttwak, einer der angesehensten Autoren in den USA ("Weltwirtschaftskrieg" und "TurboKapitalismus"), so: "In den USA herrscht ein säkularisierter Calvinismus, im übertragenen Sinne also der Glaube, daß der Wert des Menschen von seinem wirtschaftlichen Erfolg abhängt." Viel Geld, viel Ehr. Auch in Deutschland scheint das zum Maßstab zu werden. "Unternehmen Größenwahn" titelt ein Hamburger Magazin seine Ausgabe nach einer Fusion von Banken, und in einer Sonntagszeitung fand sich im Wirtschaftsteil der verräterische Titel: "Ethik stört die Performance" (Leistung). Nun sollte man von Bankern nicht erwarten, daß sie den Bankschalter zum Altar ethischer Grundsätze umbauen. Das ,wäre weltfremd. Aber der notorisch und mit Schuldnermiene vorgebrachte Verweis auf die Zwänge der Globalisierung hat den Nachgeschmack eines fadenscheinigen Alibis. Man beruft sich auf die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, die es zu steigern oder wenigstens zu halten gelte.

"Wettbewerbsfähigkeit": Nur eine Ausrede

Dabei ist diese Wettbewerbsfähigkeit ein potemkinsches Dorf.' Paul Krugmann, der nobelpreisverdächtige Star der wirtschaftswissenschaftlichen Szene, macht in diesem Sinn darauf aufmerksam, daß Handel und Produktivität in Wahrheit mehr eine regionale denn eine globale Frage seien. Beispiel Deutschland: Mit 1,3 % der Weltbevölkerung erzeugt man hier zwar gut 10 % des Welthandels, aber der größte Teil davon wird in Europa abgewickelt. "Global" bedeutet vor allem "europäisch". Rund 95 % der deutschen Anlageinvestitionen verbleiben sogar im Inland. Von einem entfesselten Wettbewerb aller gegen alle kann keine Rede sein. Der Kunde ist vor Ort. Das war er schon im vergangenen Jahrhundert. Krugman weist nach, daß der internationale Handel heute, gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, nicht umfangreicher ist als vor hundert Jahren. Vor dem Ersten Weltkrieg sei England offener gewesen für internationalen Handel als die USA heute, und auch in den boomenden sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts habe man aus Niedriglohnländem nicht weniger in die USA importiert als jetzt. Die Idee, Länder konkurrierten miteinander ähnlich wie Coca Cola und Pepsi, sei "Schwachsinn". Länder könnten nicht bankrott gehen oder Konkurs anmelden. Konkurrenz sei eine Angelegenheit von Unternehmen. Nach Krugmann ist die Globalisierung vor allem eine Ausrede für die Politiker. Von einigen Branchen abgesehen, die in der Tat global agierten, habe die Beschäftigung, d.h. der Arbeitsmarkt in den einzelnen Ländern, vor allem damit zu tun, daß die Leute weniger kauften und die Arbeiter durch Maschinen ersetzt würden. Deutschland, rät er, die Überregulierung abzubauen, die Gründungsbedingungen für Unternehmen zu erleichtern, die Kosten des Gesundheitssysterns zu begrenzen usw. - alles Möglichkeiten in Griffnähe.

In den Zentren: 100% Scheidungsrate

Die Zerstörung des Sozialen produziert das weltweite Unbehagen an der Globalisierung. Familie, Gemeinde, Staat und Gesellschaft werden oft nur noch als Faktor und Masse für die Inanspruchnahme eigener Wünsche gesehen; das Konkurrenzdenken durchdringt den sozialen und auch privaten Raum. Der homo ökonomicus ersetzt den homo sapiens. Schon der protestantische Moralphilosoph und Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaft Adam Smith (1723-1790) warnte vor der Versuchung des Reichtums: Die kommerzielle Gesinnung engt den Geist des Menschen ein, "und die heroische Gesinnung erstickt'. Wie erstickend der Kapitalismus sein kann, zeigt wiederum Luttwak auf. Immer schneller drehe sich die Maschine der Fusionen und Spekulationen. Der einzelne könne in diesem System nicht sicher sein, daß er seine berufliche und finanzielle Position lange hält. "Die" fehlende wirtschaftliche Stabilität produziert Angst, und diese trägt Spannungen in die Familien und bringt die Gesellschaft durcheinander. Inzwischen enden über 50 % aller Ehen in den USA in Scheidung - landesweit. Wo der TurboKapitalismus voll funktioniert, an der NewYorker Wall Street oder im kalifornischen Silicon Valley, beträgt die Scheidungsrate fast 100%. Dort verlangt das System so viel Energie und Zeit von den Leistungsträgern, daß sie sich nicht mehr um Beziehungen kümmern. So atomisiert der TurboKapitalismus die Gesellschaft mehr und mehr."

Wo bleibt das Gemeinwohl?
Verflüchtigt sich die Idee vom Gemeinwohl? Vielfach reduziert es sich eben auf das Wohl der Aktiengesellschaft - Stichwort shareholder value. Aber auch das ist, ähnlich wie das Argument von der Wettbewerbsfähigkeit, letztlich eine Ausrede. Alfred Rappaport, der Erfinder des Begriffs "shareholder value", sieht in diesem Denken eine Verflachung seiner Theorie. Personalabbau könne die "langfristige Produktivität der - verbleibenden Arbeitskräfte negativ beeinflussen", schrieb er schon vor ein paar Jahren und plädierte für eine langfristige "Partnerschaft für Wertsteigerung" zwischen Eigentümern (Aktionären) und Angestellten. Das setze die gegenseitige Achtung der Arbeit und Funktion des Partners und eine "gerechte Werteteilung" des Gewinns, sprich Engagement, und eine gerechte Lohnskala voraus. Weder Geld noch Personen müssen vorrangig freigesetzt werden, sondem Energien und Ideen. Das sei der wahre Wettbewerbsvorteil, meint Rappaport, nicht die verschlankte Struktur. Die könne auf Dauer sogar teurer zu stehen kommen, denn über die Ideen kommt auch der dritte unverzichtbare Partner ins Spiel, der Kunde. Das sind wir alle, und da ist es wieder, das Gemeinwohl, wenn auch in anderem Kleid.

Gemeinwohl - Schlüsselwort der Globalisierung

Das Gemeinwohl ist das heimliche Schlüsselwort der Globalisierung. Es ist ein genuin christliches Wort. Das Gemeinwohl ist, wie schon Papst Leo XIII. vor mehr als hundert Jahren sagte, "in der Gesellschaft nach Gott das erste und letzte Gesetz" (1892 an den französischen Klerus).Und noch früher schrieb Thomas vonAquin (1224/5-1274), die Sozialethik stehe vor der Individualethik. Dieses Bewußtsein verdunstet im Rauch der Globalisierung. Das Reden von Gerechtigkeit aber klingt ohne Bezug auf das Gemeinwohl hohl, und dieses ist ohne Bezug auf Gott keine tragfähige Grundlage für ein Gemeinwesen, in dem nicht das Recht des Stärkeren gelten soll. Die Suche nach der sozialen Komponente der Globalisierung bleibt unterentwickelt, auf dem globalen Spiel steht die Menschlichkeit, steht die uralte Alternative Mensch (und für ihn Gott) oder Geld, Haben oder Sein. Christdemokratische Politiker haben dafür einmal die soziale Marktwirtschaft erfunden und praktiziert. Auch ihr Kerngedanke war das Gemeinwohl, "Wohlstand für alle" nannte es Erhard. Darum geht es. Die Wirtschaft muß wieder dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Dies bewußt zu machen, ist sicher auch eine Aufgabe für Christen.