Herr, gedenke meiner Wie Gott im Moskauer Staatstheater wirkte - vor rund 40 Jahren Die Geiselnahme in einem Moskauer Musi- cal-Theater ist in der Nacht zum 26. Oktober 2002 gewaltsam beendet worden. 118 Gei- seln und 50 Terroristen starben. Wo war in dieser Situation Gott, fragen sich viele - und werden vielleicht erst nach Jahren oder in der Ewigkeit eine Antwort finden. Dass Gott selbst in Situationen grter Gottlosigkeit wirken kann, illustriert folgende Begeben- heit aus dem Moskauer Staatstheater, die sich whrend der Zeit schlimmster Chris- tenverfolgung in der Sowjetunion unter Chruschtschow ereignete (die Geschichte findet sich in Willi Hoffsmmer, Kurzge- schichten Band 1, Matthias-Grnewald- Verlag). Das Moskauer Staatstheater brachte die Urauffhrung der Posse Christus im Frack. Das Stck sollte whrend des ganzen Sommers gespielt werden. Alle Schulen und alle jungen Arbeiter wurden aufgefordert, dieses Theater zu besuchen. Allerdings: Wenig spter sprach kein Mensch mehr von dem Stck, denn es wur- de nicht mehr gespielt. Verschuldet hatte das der Schauspieler Alexander Rostowzew. Er sollte den Chris- tus spielen. Bis zur Premiere galt er als groer Star und berzeugter Kommunist. Danach verschwand sein Name. Kreuz aus Schnapsflaschen Folgende Szene hat sich nach Augenzeu- genberichten abgespielt: Auf der Bhne stand ein Altar. Er glich eher der Theke einer Bar. Wein- und Schnapsflaschen waren in Form eines Kreuzes aufeinandergeschich- tet. Beleibte Priester und Mnche umtnzel- ten den Altar. Ihr versoffenes Gegrle ahm- te das Gebet der Litanei nach. Hysterischer Augenaufschlag sollte religise Gefhle darstellen. Auf dem Boden wlzten sich fet- te Nonnen, die sich Wodka in die Kehle gs- sen, Karten spielten und ordinr redeten. Spott auf Seligpreisungen Im zweiten Akt betritt Rostowzew in der Rolle des Jesus Christus die Bhne. In der Hand hlt er die Bibel. Daraus soll er die ersten zwei Seligpreisungen der Bergpredigt (Matth. 5) vorlesen. Dann soll er das Buch wegschleu- dern und in den Ruf ausbrechen: Reicht mir Frack und Zylinder! Aber es kommt anders. Alexander Rostowzew liest wrdig und laut: Selig sind dieArmen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tra- gen, denn sie sollen getrstet werden. Hiel- te er sich an seine Rolle, msste er jetzt das Buch wegwerfen. Stattdessen liest er weiter: Selig sind die Sanftmtigen, denn sie wer- den das Erdreich besitzen. Herr, gedenke meiner Rostowzew schweigt pltzlich. Der Souffleur wird ratlos und erblasst. Das Publikum sprt, wie in Rostowzew eine tiefe Bewegung vor- geht, die sicher nicht seiner Rolle entspricht. Jeder hlt den Atem an, und Grabesstille be- herrscht das Haus. Nach einer Pause unheim- licher Spannung liest der Schauspieler weiter: Selig sind, die da hungern und drsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Voller Ergriffenheit liest er schlielich von je- nen, die selig sind, weil sie um des Namens Je- su willen Verfolgung leiden. Im groen Saal des Moskauer Staatstheaters herrscht atemlo- se Stille. Niemand protestiert. Alle horchen ge- spannt und warten, was nun wohl geschehen wrde. Das Ende der Szene ist ebenso ber- raschend wie ihr Beginn: Rostowzew schlgt das Kreuz in orthodoxer Art ber Kopf und Brust und bricht in den erschtternden Ruf des Schachers am Kreuz aus: Herr, gedenke mei- ner, wenn du in deinem Reiche sein wirst! Was nach diesem Abend mit Rostowzew ge- schah, ist nicht bekannt.